Mütterwand – ein sensationeller Fund aus dem Bodensee / mehr dazu in der DenkBar
Regina Golke gibt im Text einen Überblick über die im März 2021 aktuellen Forschungsergebnisse zur Mütterwand unter Hinzuziehung neuer und längst bekannter Erkenntnisse namhafter WissenschaftlerInnen. KaraMa Beran zeigt die Bedeutung des lebensgrossen Frauenreliefs am 15. November in der DenkBar St. Gallen auf.
Die Mütterwand faszinierte mich von Anfang an, weil sie auch in der Jungsteinzeit die Frauen in den Vordergrund rückt, was wir bisher vor allem aus der Altsteinzeit mit ihren unzähligen figürlichen Frauendarstellungen kannten. Und beides auf lokaler Ebene.
Der Fund
Vier Jahre lang haben Feuchtbodenarchäologen den Seeboden im Strandbad Ludwigshafen durchsucht und unter schwierigsten Bedingungen 2000 bemalte Wandfragmente eines Pfahlbauhauses geborgen. 2000 Lehmscherben bedeuten lediglich 20 % der 8 m langen Hauswand.
Es vergingen nochmals zwanzig Jahre bis das 5880 Jahre alte Bild zusammengesetzt war und 2016 in einer Ausstellung „5000 Jahre Pfahlbauten“ der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Vielen Dank den ArchäologInnen Herr Schlichtherle und Frau Fischer die in mühsamer Kleinarbeit die Puzzleteile zu einem grossen Ganzen zusammenfügten.
Die bemalte Wand gehörte zu einem Kulthaus, das am äusseren Rand eines Dorfes mit 80 Häusern dem See zugewandt stand.
Die Darstellung
Das Wandfries zeigt sieben ähnliche lebensgrosse Frauen mit verschiedenen Halsausschnitten, mit Kopf oder kopflos und teils offenem Kleidersaum, alle auf gleicher Ebene. Ihre Brüste sind plastisch und wurden schon beim Wandaufbau geformt. Von ihren RekonstruktörInnen haben sie Namen bekommen: Anna, Berta, Clara, Dora, Eva, Frieda und Gertrude. Das würdigt die abgebildeten Frauen und zugleich ihre Schöpferinnen. Zwischen jeder sind Baummotive mit bedeutsamem Symbolgehalt abgebildet.
Was kann aus dem Fries herausgelesen werden? Wer sind die Frauen? Ahninnen von jeweils einem Klan? Urgrossmütter? Muttergottheiten? Nahe oder ferne Vorfahrinnen? Wurde Weiblichkeit an sich abgebildet oder bestimmte Frauen?
Die Zwischenmotive
Die Zwischenmotive scheinen uns Antworten zu geben. Sie können als mütterlicher Stammbaum interpretiert werden, denn darunter sind kleine Menschenwesen abgebildet. Die Bäumchen sind zusammengesetzt aus Darstellungen von Gebärenden, die aus anderen Zusammenhängen und anderen Orten bekannt sind. Sie scheinen zu sagen: „geboren aus Anna, geboren aus …“ usw. ähnlich wie die russische Puppe, die immer kleiner werdende Puppen in sich birgt. Die Lebensbäumchen scheinen eine Generationenfolgedarstellung zu sein. Demzufolge könnten die Frauen Mütter, Grossmütter, direkte, entrückte oder göttliche Ahninnen sein.
Auch die weissen Punkte auf ihrer Kleidung weisen in eine mütterliche Richtung. Sind es Milch-, Wassertropfen oder Getreidekörner? Sie deuten auf Nahrung für die Kinder, für die Menschen, für die Erde hin.
Bauchiger Brustkrug
Unter den Funden war auch ein bauchiger Brustkrug mit bedeutungsvollem Inhalt: Birkenpech, ein seit der Altsteinzeit gebräuchlicher Klebstoff. Dieser wird durch ein sehr schwieriges Verfahren mit hoher Hitzeeinwirkung hergestellt. Dabei verwandelt sich Birkenrinde in Pech. Eine Transformation ähnlich eines Kindes, das im Bauch der werdenden Mutter heranreift! Die Symbolik des Brustgefäßes bestätigt den Symbolgehalt der Bäumchen und der Frauen. Deutlicher kann es nicht dargestellt werden: es geht um das neu entstehende Leben, das Gebären, um die Würdigung von Frauen (und Weiblichkeit), die Leben hervorbringen und nähren können. Weiter gefasst können wir es auf die gesamte Natur, die Erde beziehen, die ebenfalls neues Leben schenkt und für Nahrung sorgt. Die Bewohnerinnen dieses Ortes waren AckerbäuerInnen und Viehzüchterinnen, verstanden daher viel vom Werden und Vergehen.
Das Kulthaus
Das Kulthaus war genauso groß wie die anderen Wohnhäuser des Dorfes und gleich ausgestattet. Zusätzlich noch mit Besonderheiten. Zu welchem Zweck wurde dieses Haus genutzt?
Wir können uns spirituelle Riten, Initiationen, Zeremonien, politische Zusammenkünfte, Feste von bestimmten (Frauen-) Gruppierungen, Einweihungen, Segnungen, Wissensweitergabe an junge Frauen, eine Nutzung als Geburts- und Sterbehaus, Debattierhaus zur Konsensfindung und Lernort usw. vorstellen. Das Haus konnte nicht alle BewohnerInnen des Dorfes fassen. Zum Vergleich: Eine heutige Kirche kann es auch nicht. Allerdings wurde das Haus nicht für alle Ewigkeit gebaut. Nach 4 bis 20 Jahren fiel es in sich zusammen, oder wurde abgerissen, um Platz für ein neues zu gewinnen. Und trotzdem wurde die Wand mit grossem Aufwand bemalt!
Interpretation der Darstellung
Zeigt die bemalte Wand eine mütterliche Gesellschaftsform mit religiösem spirituellem und politischem Hintergrund auf? Wurden der Nachwelt auf diesem künstlerischen Weg Indizien für Egalität aufgezeichnet?
Auf der Darstellung ist keine Hierarchie zu erkennen, alle Frauen sind auf gleicher Ebene. Offensichtlich spielten alle Sieben eine große Rolle, sonst wären sie nicht in einem Kulthaus in solcher (Lebens-) Größe abgebildet worden. Sie werden als Gebärende und das Leben weitergebende dargestellt. Sie stehen am Anfang des Geschehens und sorgen für das Weiterleben der jeweiligen Klans. Auch für das Überleben, wenn wir die weißen Punkte als Milch-, Regentropfen oder Getreidekörner deuten. Vielleicht verdanken wir diesen Frauen besondere Gaben, vielleicht wurden sie als Kulturbringerinnen verehrt. Verschiedene Familienlinien stehen ranggleich nebeneinander.
Das Bild spiegelt die soziale Ordnung wider; wir haben es eindeutig mit einem egalitären Gesellschaftsbild zu tun.
Erkennbar ist dies auch an der gleichen Größe und gleichen Ausstattung der Langhäuser des Dorfes. Es gab keine reichen und armen BewohnerInnen. Alle hatten denselben Zugang zu den damals verfügbaren Ressourcen.
Egalität ist ein Aspekt einer matriarchalen Gesellschaftsordnung. Ein weiterer die Matrilokalität, bei der die Kinder / insbesondere die Töchter im Mutterhaus bleiben und selbst zum Heiraten nicht ausziehen. Sie trennen sich nicht von der Mutter, stattdessen gehen die Söhne zur Beziehungspflege ins Haus der Geliebten. (sog. Besuchsehe) Dieser Aspekt kann bislang für das Pfahlbaudorf in Ludwigshafen nicht nachgewiesen werden, denn es bräuchte dazu eine DNA – Analyse aus Knochenmaterial. Doch es gibt keine Gräberfunde in der Umgebung der Pfahlbaudörfer.
Wo ist die Mütterwand zu sehen?
Die zusammengesetzte Wand mit den Originalteilen wurde nach der Ausstellung in Bad Schussenried abgebaut. Die Originalteile lagern zu Forschungszwecken in Hemmenhofen beim Landesamt für Denkmalpflege. Es stehen noch Scherben zur Verfügung, die bisher nirgends eingefügt werden konnten. Herr Schlichtherle, leitender Feuchtbodenarchäologe, heute im Ruhestand, versucht mit neuen Methoden das Bild weiter zu vervollständigen. Vielleicht führt das zu neuen Erkenntnissen möglicherweise unterhalb der teils offenen Kleidersäume der Frauen. Im Landesmuseum Konstanz ist eine kleine Ausstellung über die Pfahlbauten zu sehen, unter anderem mit der Darstellung der Frauen an einer Wand. S. Foto von Eva Knoll-Berchmann bei meinem Besuch dort im Frühjahr 2019.
Ich bin gespannt auf neue Forschungsergebnisse und würde mich freuen Herrn Schlichtherle nochmals für eine Führung in Hemmenhofen gewinnen zu können. Ebenso hoffe ich darauf irgendwann mal die rekonstruierte Originalwand im Landesmuseum Konstanz gemeinsam mit Interessierten gebührend bewundern zu können.