40 Jahre seit “Züri brännt” – Jugendunruhen der 1980er-Jahre
Am Abend des 30. Mai 1980 versammelten sich mehrere Hundert Jugendliche vor dem Zürcher Opernhaus im Protest gegen die Kulturpolitik der Stadt Zürich. Die Stadtregierung hatte kurz zuvor einen Kredit von 60 Millionen Franken für die Sanierung des Opernhauses bewilligt, jugendliche Forderungen nach alternativkulturellen Angeboten jedoch abgelehnt.
Im Verlauf der Demonstration, zu der sich am späteren Abend BesucherInnen eines Bob-Marley-Konzerts gesellten, schlug der Protest in gewaltsame Zusammenstösse um: Die Demonstrierenden warfen Bretter, Farbbeutel und Eier gegen die Polizei, diese antwortete mit dem Einsatz von Gummischrot und Tränengas. Bis in die Morgenstunden hinein kam es sodann rund ums Bellevue zu Randalen. Der sogenannte Opernhauskrawall bildete den Auftakt zu einer zwei Jahre dauernden konfliktiven Phase, die geprägt war von immer wieder in Gewalt ausartendem Strassenprotest, aber auch neuen Formen kultureller und politischer Manifestationen rund um das Autonome Jugendzentrum (AJZ). Das Schweizerische Sozialarchiv besitzt über diese einschneidenden Ereignisse in allen Abteilungen umfangreiche Bestände, die in der Benutzung seit Jahren besonders intensiv nachgefragt werden und auch 40 Jahre danach immer noch Neuzuwächse erfahren.
Schon einen Tag nach den Zusammenstössen beim Opernhaus gab es neue Krawalle. Am 4. Juni 1980 fand im Volkshaus Zürich eine „Vollversammlung“ der Jugendbewegung mit einer Vertretung der Stadtregierung statt. Zwei Tage darauf verbot der kantonale Erziehungsdirektor Alfred Gilgen, der zu einer Hassfigur der Jugendbewegung werden sollte, die Vorführung eines Kurzfilms des Ethnologischen Seminars der Uni Zürich über die Opernhauskrawalle. Im Verlauf des Junis gab es verschiedene Demonstrationen sowie weitere Vollversammlungen. Diese waren mehrstündige Massenanlässe mit teilweise bis zu 3’000 TeilnehmerInnen und fanden in der Roten Fabrik, im Volkshaus, im Platzspitzpark oder im Festzelt vor dem Opernhaus statt. Das Sozialarchiv verfügt über Tonaufnahmen der ersten zehn Vollversammlungen.
Am 20. Juni wurden mehrere Exponenten der Jugendbewegung als „Rädelsführer“ verhaftet. Eine Woche darauf öffnete aber unter der Trägerschaft der Sozialdemokratischen Partei der Stadt Zürich das AJZ an der Limmatstrasse hinter dem Hauptbahnhof, wo sich heute der Carplatz Sihlquai befindet. In den folgenden zwei Monaten ereigneten sich wiederholt schwere Zusammenstösse zwischen der Jugendbewegung und der Polizei in der Innenstadt. Anfang September wurde das AJZ nach einer Polizeirazzia, bei der Drogen und Waffen sichergestellt worden waren, geschlossen, was Krawalle an der Bahnhofstrasse nach sich zog. Am 20. September demonstrierten die Bewegten und VertreterInnen von Parteien der Neuen Linken an einer Grosskundgebung friedlich für das AJZ, in den darauffolgenden Monaten gab es aber erneut Krawalle und auch Brandanschläge, die Schäden in Millionenhöhe verursachten. Am 12. Dezember zündete sich eine Frau am Bellevue selber an und verstarb einige Tage darauf. Bei der „Weihnachtsdemo“ am 24. Dezember 1980 scheiterte ein Sturmversuch auf das geschlossene AJZ.
Auch im Frühjahr 1981 gab es verschiedene Demonstrationen, Aktionen und Vollversammlungen der Jugendbewegung. Nach schweren Krawallen in der Innenstadt am 7. März und einer vorübergehenden Besetzung des AJZ zwei Wochen darauf wurde das Zentrum am 3. April 1981 wiedereröffnet. Am 1. Mai störten Bewegte die Feierlichkeiten zum Tag der Arbeit und am 30. Mai, dem Jahrestag des Opernhauskrawalls, gab es eine „Jubiläumsdemo“ mit Ausschreitungen. Als Reaktion auf mehrere Polizeirazzien ereigneten sich während des Sommers 1981 verschiedentlich Demonstrationen und Sachbeschädigungen. Aufgrund der zunehmend chaotischer werdenden Situation beantragten die AJZ-Arbeitsgruppen am 12. Oktober 1981 einer Vollversammlung die vorübergehende „autonome“ Schliessung des AJZ. Erst am 24. Dezember wurde das Zentrum wieder geöffnet, sein Betrieb zerfiel aber zunehmend.
Die Gemeindewahlen Anfang März 1982 brachten dann einen Rechtsrutsch. Dabei spielte der Verdruss vieler WählerInnen über die anhaltenden Krawalle mit dem internationalen konservativ-neoliberalen Grosstrend zusammen, dessen Ausprägungen etwa der Thatcherismus in Grossbritannien, die Reaganomics in den USA und Helmut Kohls „geistig-moralische Wende“ in der Bundesrepublik darstellten. Im Gemeinderat verloren die Sozialdemokratische Partei und der Landesring der Unabhängigen massiv Sitze und die bürgerlichen Parteien konnten erstmals seit den frühen 20er Jahren wieder eine absolute Mehrheit erringen. Damit strafte das Wahlvolk die beiden Parteien ab, deren Exponenten im Zusammenhang mit den Jugendunruhen besonders präsent waren. Die SP stellte mit Emilie Lieberherr die städtische Sozialvorsteherin und hatte die Trägerschaft des AJZ inne. Dem LdU gehörten der für die Kulturpolitik zuständige Stadtpräsident Sigmund Widmer, der städtische Polizeivorsteher Hans Frick sowie der kantonale Erziehungsdirektor Alfred Gilgen an. Auch die Stadtratswahlen ergaben eine bürgerliche Mehrheit. Anstelle des zurücktretenden Sigmund Widmer, der noch 1978 der Rockmusik den Kulturcharakter abgesprochen hatte, wurde der freisinnige Hoffnungsträger Thomas Wagner zum Stadtpräsidenten gewählt. Die bisher im neunköpfigen Stadtrat mit vier Sitzen vertretene SP flog erstmals im 20. Jahrhundert aus der Regierung. Drei ihrer bisherigen Stadtratsmitglieder, darunter Emilie Lieberherr, wurden von der SP aufgrund von Differenzen im Umgang mit der Jugendbewegung nicht mehr portiert, erlangten aber mit Unterstützung des Gewerkschaftskartells die Wiederwahl, während die offiziellen SP-Kandidaturen erfolglos blieben. Zehn Tage nach den Wahlen löste die AJZ-Trägerschaft den Vertrag mit der Stadt auf. Noch am selben Tag liess der Stadtrat das Areal räumen und am 23. März 1982 wurde das Gebäude hinter dem Hauptbahnhof abgebrochen.
Die Zürcher Jugendbewegung der frühen 80er Jahre kam nicht aus heiterem Himmel. Alfred Gilgen meinte drei Jahre vor seinem Tod zu den Ursachen der Ereignisse um das AJZ: „Wenn man an der Oberfläche kratzt, gab es zwei Hauptgründe. Erstens hatte der Stadtrat sein Versprechen eines Jugendhauses 30 Jahre lange nicht eingelöst oder nicht einlösen können. Dann hatten die Demonstranten aber auch kritisiert, die Mittelverteilung in der Kultur sei unsinnig und einseitig. Da hatten sie ein Stück weit recht. Das meiste Geld floss in die grossen Kulturinstitute, und für die kleinen blieb kaum etwas übrig“ (Tages-Anzeiger, 30.5.2015). Tatsächlich hatte es bereits Ende der 30er Jahre die ersten Vorstösse für ein Jugendhaus in Zürich gegeben. 1949 formierte sich ein „Initiativkomitee für ein Zürcher Jugendhaus“. Daraus ging 1951 der Verein Zürcher Jugendhaus hervor, dessen Akten sich heute im Sozialarchiv befinden. Im Jahre 1960, zur Zeit der „Halbstarken“-Szene, wurde ein provisorisches Jugendhaus im Drahtschmidli eingerichtet. Im Sommer 1968 konstituierte sich dann ein „Provisorisches Aktionskomitee für ein autonomes Jugendzentrum“. Der Globuskrawall als prominentestes Ereignis von „68“ in der Schweiz drehte sich – im internationalen Vergleich der 68er-Bewegungen eher untypisch – um die Forderung nach Einrichtung eines Autonomen Jugendzentrums im Globusprovisorium auf dem Papierwerd-Areal beim Hauptbahnhof Zürich (vgl. SozialarchivInfo 3/2018).
Am 30. Oktober 1970 erfolgte die Eröffnung eines Jugendzentrums im Lindenhof-Bunker, das sich zwei Monate darauf zur „Autonomen Republik Bunker“ erklärte und schon am 18. Januar 1971 wegen Drogenproblemen polizeilich geräumt wurde. Im Sommer 1974 lehnten die Stimmberechtigten eine Vorlage für die Erneuerung des Jugendhauses im Drahtschmidli ab. Als Ersatz öffnete im November 1977 ein Jugendhaus im Schindlergut („Schigu“), das aber bereits im Sommer 1978 als Ort illegalen Drogenkonsums wieder geschlossen und dann im Frühjahr 1981 von den Bewegten vorübergehend besetzt wurde. 1979/80 kam es bei Konzerten von Jimmy Cliff, Nina Hagen und Peter Tosh zu Unruhen. Den unmittelbaren Anstoss zur 80er-Bewegung gaben die Auseinandersetzungen um die Nutzung der Roten Fabrik. Im Jahre 1977 hatten die Stimmberechtigten eine SP-Initiative für die Umwandlung der Roten Fabrik in ein Begegnungs- und Kulturzentrum angenommen. Die Umsetzung durch die Stadt verzögerte sich aber. Anfang 1980 formierten sich die „Interessengemeinschaft Rote Fabrik“ (IGRF) sowie die „Aktionsgruppe Rote Fabrik“ (ARF). Letztere war es, die dann am 30. Mai zu den Protesten vor dem Opernhaus aufrief, die den Startschuss der 80er-Bewegung darstellen.
Neben den aufsehenerregenden Krawallen artikulierte sich die Jugendbewegung aber auch in einer Vielzahl anderer Formen, die im Sozialarchiv etwa durch die Fotografien von Gertrud Vogler, Olivia Heussler und Michel Fries umfangreich dokumentiert sind. Friedliche Demonstrationen konventioneller Art kontrastierten mit einer von vielen als schockierend empfundenen Nacktdemo oder einer Strassenbarrikade aus Fernsehapparaten. Graffitis der Bewegung waren an den Hauswänden Zürichs allgegenwärtig. Am 16. Juli 1980 gelang der Bewegung ein besonderer Coup mit der sogenannten „Müller-Sendung“, einem der grössten Skandale der Schweizer Fernsehgeschichte. In einer Diskussionsrunde mit Emilie Lieberherr, Hans Frick, dem Zürcher Polizeikommandanten Rolf Bertschi, dem Stadtzürcher SP-Präsidenten Leonhard Fünfschilling und dem völlig überforderten Moderator Jan Kriesemer traten zwei AktivistInnen der Bewegung als „Herr und Frau Müller“ schick gekleidet auf und forderten unter anderem ein Armeeaufgebot sowie den Einsatz von Napalm gegen die Demonstrierenden.
Die in den Sammlungen des Sozialarchivs zahlreich vorhandenen Flyer und Bewegungszeitungen der 80er grenzten sich scharf von der Theoriebegeisterung der 68er-Bewegung ab. An die Stelle ideologischer Bleiwüsten traten knappe, häufig ironiegetränkte Parolen und aufwändige grafische Gestaltung. Cartoons spielten in den Bewegungszeitungen eine wichtige Rolle. Sodann kommunizierten die Bewegten auch über Piratenradios und Telefonzeitungen. Zudem nutzte die „Bewegung“ das damals neue Medium des Videofilms intensiv, um ihrem Protest und der kulturellen Aufbruchstimmung Ausdruck zu verleihen. Dank der Sammeltätigkeit von Heinz Nigg konnten in den 90er Jahren 85 Videobänder mit insgesamt 106 Beiträgen der Jugendbewegung gerettet, restauriert und digitalisiert werden. 80 dieser Videos sind heute als Bestand „Stadt in Bewegung“ in der Datenbank Bild + Ton des Sozialarchivs online frei konsultierbar.
Sozial und kulturell waren die 80er-Bewegten sehr heterogen. Was sie verband, waren Entwurzelung und ein – in den Diskursen der Jugendbewegung häufig mit Kältemetaphern verbalisiertes – Gefühl fehlender Zugehörigkeit sowie das Bedürfnis nach Selbstentfaltung, das sich in neuem Lebensstil manifestierte. Dazu gehörten Elemente wie Kleidung, Frisur, Wohnformen, Umgangssprache und Musik, teilweise auch der Konsum von Drogen. Rockkonzerte fanden im AJZ zahlreich statt. Ein Höhepunkt war der Auftritt von Jimmy Cliff auf dem AJZ-Areal am 30. Juni 1981. Die Politisierung der 80er erfolgte in der Regel im Übergang von der Schule ins Jugendalter, teilweise im subkulturellen Milieu der Jugendhäuser. Ältere AktivistInnen mit Erfahrungen ausserparlamentarischer Opposition aus den 70er Jahren verbanden sich mit unzufriedenen Jugendlichen. So waren je etwa ein Viertel der 80er-Bewegten über 25 Jahre oder unter 18 Jahre alt, während die 18- bis 25-Jährigen den Hauptharst der Bewegung stellten.
Auch ausserhalb Zürichs entstanden in jenen Jahren vergleichbare Jugendbewegungen. Sie sind im Sozialarchiv in mehreren Archivbeständen sowie der Zeitungsausschnittsammlung ebenfalls dokumentiert. In Basel, Bern und Lausanne gab es 1980/81 gewaltsame Demonstrationen. In Basel wurde in der Folge das Gelände der Alten Stadtgärtnerei zu einem Brennpunkt autonomer Jugendkultur, in Bern drehten sich die Auseinandersetzungen um das Zelt- und Wagendorf Zaffaraya und die Reithalle. Kleinere Jugendbewegungen formierten sich etwa in St. Gallen, Luzern und Zug. In Winterthur wurde 1980 ebenfalls demonstriert, eine radikale Jugendszene machte dann aber erst in den folgenden Jahren mit einer Reihe von Farb-, Brand- und Sprengstoffanschlägen auf sich aufmerksam, die ihren Höhepunkt im August 1984 mit einem Sprengstoffattentat auf das Haus von Bundesrat Rudolf Friedrich erreichte. Die Behörden antworteten darauf mit einer rigorosen Verhaftungswelle, in deren Verlauf eine Frau in Untersuchungsisolationshaft Suizid verübte. International gab es in den frühen 80ern vergleichbare Jugendbewegungen etwa in Westberlin, Hamburg oder Amsterdam.
Wurde das AJZ an der Limmatstrasse im Frühjahr 1982 abgerissen, so erfüllten sich in den folgenden Jahren doch zahlreiche kulturpolitische Forderungen der Jugendbewegung. Unter der Ägide des neuen Stadtpräsidenten Wagner verzehnfachte sich bis 1990 das städtische Budget für Alternativkultur. In rascher Folge öffneten das Kulturzentrum Rote Fabrik, das Kanzleizentrum, das Theaterhaus Gessnerallee und das Jugendkulturhaus Dynamo. Als kulturelle Spin-offs des AJZ etablierten sich das Programmkino Xenix und der Sender Radio LoRa. Zugleich hatte das Ende des AJZ aber auch zur Folge, dass die seit den frühen 70er Jahren zwischen verschiedenen Orten der Innenstadt pendelnde Drogenszene wieder heimatlos wurde und sich nach einer erneuten Wanderphase ab 1986 auf dem Platzspitz, in räumlicher Nähe zum ehemaligen AJZ, festsetzte (vgl. SozialarchivInfo 5/2017).