Der Hort der direkten Demokratie – Jo Langs Pflichtlektüre für patriotische Schweizerinnen und Schweizer
Die Schweiz sieht sich gern als Hort der direkten Demokratie, die ihre Wurzeln im fernen Mittelalter haben soll. Die heutige Form des Schweizer Staatswesens geht aber wesentlich auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Josef Lang analysiert und reflektiert seine Entstehung und Entwicklung in geraffter Form.
Inwiefern gab es Partizipation in der Zeit vor 1798? Welche Auswirkungen hatte die Helvetik? Auf welcher Basis entstand der Bundesstaat 1848? Der Autor beschreibt eindrücklich den Umbruch in den Jahren nach 1860, als sich demokratischer, säkularer und sozialer Fortschritt zu verbinden begannen. Er schildert die Veränderungen des Staatswesens im 20. Jahrhundert mit dem Vollmachtenregime während der Weltkriege, den Konflikten zwischen Korporatismus und Republikanismus in der Zwischenkriegszeit, der politischen Enge in der Zeit der Geistigen Landesverteidigung, dem gesellschaftlichen Aufbruch 1968 und der konservativen Wende der 1990er-Jahre. Und er beleuchtet mit der aktuellen Klimabewegung und den Debatten um Gleichstellung die Gegenwart.
«Verdienstvoll ist, dass der Autor versucht, Übersicht in den Schüttelbecher der Geschichte zu bringen und die Abläufe begreifbar zu machen», schreibt das Journal21. «Josef Lang, der sich als Historiker und politischer Aktivist der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GsoA) und der Grünen schon lange mit helvetischen Mythen befasst, hat jetzt ein Buch vorgelegt, das der Frage nachgeht, welche Kräfte die Demokratie gedanklich und praktisch vorangetrieben haben und welche Widerstände sie zu bewältigen hatten.», so das P.S. «Jo Lang zeigt in seinem Buch, wer die moderne Schweiz voranbrachte und welche Mittel sie dafür benötigte. Man darf das neue Buch des Armeeabschaffers gern als patriotisch bezeichnen», gibt Linus Schöpfer im Tages-Anzeiger preis und bezeichnet das Langs neustes Werk als «Pflichtlektüre für alle Patrioten». Und NZZ Geschichte kommt zum Fazit: «Der Historiker und langjährige grüne Parlamentarier Josef Lang zieht nun einen dicken Strich zwischen den alteidgenössischen Landsgemeinden und dem, was heute Demokratie ausmacht.»
Im 19. Jahrhundert sei die Schweiz – umringt von absolutistischen Monarchien – eine Insel des Fortschritts gewesen. Den gewichtigsten Makel der Verfassung von 1848 sieht Lang in der Verknüpfung von religiöser Zugehörigkeit und Bürgerschaft. Nur Christen gehörten dazu, andere Religionen waren ausgeschlossen. 1866 gewährte den Juden das Volk in einer Teilrevision der Verfassung Niederlassungsfreiheit – trotz antisemitischer Kampagnen der ultramontanen Katholiken. Und 1874 war die Schweiz das wohl progressivste Land der Welt. Mit der Totalrevision der Verfassung galt dann die Religionsfreiheit, das Schulwesen wurde säkularisiert, die Zivilehe wurde installiert und die Todesstrafe annulliert. Zudem schuf die Verfassung Grundlagen für das Fabrikgesetz und das Waldgesetz und legte damit die Basis für sozialen und ökologischen Fortschritt. Dank des Referendums erhielt das Volk mehr Mitspracherecht, das Initiativrecht folgte kurz danach.
Josef Lang identifiziert die Treiber der modernen Verfassung am linken Spektrum der freisinnigen Grossfamilie, bei den Kulturkämpfern, den Demokraten und den Grünliberalen, die sich gegen das «System Alfred Eschers» auflehnten. Escher und sein Gefolge (Förderer der Eisenbahnen, Vater des Gotthardeisenbahntunnels, Gründer der Credit Suisse und der ETH) verschafften der Schweiz zwar einen Modernisierungsschub, verfügten aber auch über eine Fülle von Macht, gegen die sich die Demokraten auflehnten. Von 1914 bis 1952 (Während des 1. bis ein paar Jahre nach dem 2. Weltkrieg) erlebte die Schweiz ein Vollmachtenregime des Bundesrates, das im Volk stärker verankert zu sein schien, als in der Regierung selbst. Eine Verfassungsrevision der Katholisch-Konservativen, welche die Grundrechte Meinungs-, Vereins- und Niederlassungsfreiheit beschneiden wollte und sich gegen Linke und Juden wandte, erlitt 1935 an der Urne Schiffbruch. Bei der «Boot-ist-voll-Initiative» gingen die Meinungen des Volkes und der Politik ebenfalls weit auseinander.
Die Schweiz von 1949 bis 1968 bezeichnet der Historiker als «geistig uniformiert» und als «geschlechterpolitischen Sonderfall», in der es an zivilgesellschaftlicher und oppositioneller Vitalität mangelte. Es brauchte damals – in der Zeit der «antikommunistischen Angstpsychose» wenig, um als Staatsfeind zu gelten. Die Armee erhielt grossen Stellenwert und die Frauen durften noch immer nicht an die Urne. 1959 verweigerte ihnen das männliche Stimmvolk das Stimmrecht. In den 1970er-Jahren belebten neue Bewegungen diesen Diskurs. Laut Lang hat der Feminismus die Schweiz in den letzten 50 Jahren am stärksten demokratisiert. Er sieht die Frauen im Mittelpunkt des demokratischen Fortschritts. Aktuelle Belege seien der Frauenstreik 2019 und die Klimabewegung. Auch dem Aufstieg der SVP zur wählerstärksten Partei widmet Lang viel Platz. In den letzten Wahlen sieht er einen Paradigmenwechsel und sieht die SVP langfristig auf dem absteigenden Ast, weil der Gegensatz Inland/Ausland oder Einheimische/Fremde in der Klimafrage keinen Sinn mache. «Verschärft wird die Krise des alpenideologisch geprägten Rechtspatriotismus durch die Tatsache, dass Gletscher schmelzen, Berge einstürzen und Täler überschwemmt werden», schreibt Josef Lang.
Natürlich ist Langs Buch aus linker Perspektive verfasst. Wie könnte es auch anders sein? Und seine Haltung schimmert am meisten in den Kapiteln zur Gegenwart und Zukunft heraus. Doch er bleibt trotzdem wohltuend sachlich. Wer sich für die Geschichte der Schweizer Demokratie interessiert, wird mit einer interessanten Analyse konfrontiert. Das grösste aktuelle Demokratiedefizit sieht der Historiker im fehlenden Ausländerstimmrecht. Dass ein Viertel der Bevölkerung vom Souverän ausgeschlossen sei, sei eines demokratischen Landes unwürdig. Einen Grossteil könnte das Land längst selbst beheben, denn eine gute Million der in der Schweiz lebenden ausländischen Bürger, erfülle die Voraussetzungen für die Einbürgerung. Josef Lang ist und bleibt halt immer auch Josef Lang!
Bild: Abstimmungsergebnisse zum Frauenstimmrecht 1959 (Wikipedia)