Die sittliche, bürgerliche Ordnung wiederherstellen
«Kirche, Küche und Kinder, Mütterlichkeit, Demut und Dienstbereitschaft», dies waren die Eigenschaften, die um 1900 von Frauen gefordert wurden. In Zeiten der Industrialisierung waren diese Forderungen für viele Mädchen und jungen Frauen aus armen Familien kaum zu erreichen. Auch die Eltern und Geschwister arbeiteten hart. Das Sichern des Lebensnotwendigen erforderte jede Minute, denn die Löhne waren knapp.
Fehlten die geforderten Eigenschaften, sorgte die Gesellschaft sich darum, während die Familie sich fürchtete, das «gefallene, sittlich gefährdete» Mädchen finde womöglich keinen Mann, ende als ewige Jungfrau, «Vagantin» oder gar im Rotlicht-Milieu. Es galt dieses Individuum besonders streng zu erziehen. Schaffte die eigene Familie es nicht, schalteten sich Fürsorge- und Vormundschaftsbehörden ein und «versorgten» solch ein Mädchen im Heim.
Das erste Mädchenasyl wurde in der Westschweiz 1875 errichtet. Junge Frauen aus der Arbeiterschicht wurden zur Ausbildung und zur Arbeit in diese Stätte geschickt und von der Verderblichkeit der Städte ferngehalten, wo ihnen zahlreiche moralische Gefahren drohten. Bald wurde dem guten Beispiel überall in der Schweiz gefolgt. Es entstanden Hunderte Mädchenasyle. Der Aufenthalt dort galt als ideale Lösung, um weibliche Jugendliche aus ihrem schlechten Umfeld zu entfernen, sie positiv zu beeinflussen und ihnen die gesellschaftlich erforderliche Rolle als Hausfrau und Mutter zu lehren.
Ein Asyl für schutzbedürftige Mädchen
In St. Gallen entstand 1888 ebenfalls ein «Asyl für schutzbedürftige Mädchen», mit dem Ziel der Integration in die bürgerliche Welt. Die Sittlichkeitsvereine waren damals sehr beliebt. Es gab um die Jahrhundertwende – alleine im Raum St. Gallen – rund 90 davon. Die Stadt war damals sehr gewachsen und wirkte offensichtlich auf suchende junge Frauen wie ein Magnet. Sie reisten jedenfalls in Scharen an. Der städtische Frauenverein machte es sich zur Aufgabe, sich um das Problem zu kümmern. Die von Eltern, Vormundschafts- und Armenbehörden zugewiesenen jungen Frauen wurden umerzogen, auf dass sie starke Mitglieder der Gesellschaft werden würden.
Das «Asyl am Wienerberg» – 1935 in «Mädchenheim Wienerberg» umbenannt – steht in St. Gallen-Rotmonten. Es nahm «gefallene» Mädchen auf, die «sittlich oder sinnlich gefährdet, verwahrlost oder arbeitsscheu waren. Unverheiratet schwanger gewordene Mädchen wurden in anderen, speziellen Einrichtungen platziert. Der Zulauf an Mädchen war so gross, dass bald schon ein zweiter Hausbau erforderlich war, finanziert durch Kollekten.
Es waren vorwiegend unverheiratete Frauen aus der Arbeiterschicht, welche die Ordnung bedrohten. Die Suche nach Arbeit in der Fabrik (auch für Kinder) brachte arme Familien in die Stadt, wo sie mit Fabrikarbeit, Haushalt und Kindererziehung belastet wurden und doch auf keinen grünen Zweig kommen konnten, denn der Lohn reichte nie und auch für Bildung blieb weder Zeit noch Geld. Zudem war die Wohnungsnot in den grösseren Städten ein Problem.
Für Erziehung und Gleichberechtigung
Prostitution und die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten wurden im späten 19. Jahrhundert in aller Welt hitzig diskutiert. Man befürchtete den Verlust der bürgerlichen Ordnung und Sittlichkeit. So wurden Sittlichkeitsvereine (unter anderen die Evangelische Frauenhilfe St. Gallen-Appenzell) geschaffen, deren Mitglieder vorwiegend unverheiratete Frauen aus der Oberschicht waren. Das erklärte Ziel der Vereine: die Gleichberechtigung der Frauen und die Abschaffung der Prostitution.
Die Aufgabe der Nacherziehung und sittlichen Festigung der jungen Frauen lag in den Händen der Pfarrer der evangelischen Kirche St. Leonhard und der Vorsteherin des Mädchenheimes, oft Wohltäterinnen nach bestem Wissen und Gewissen.
Die Heimbewohnerinnen finanzierten den Heimbetrieb durch Waschen, Bügeln, Nähen von Kundenwäsche. Wenn sie gehorchten und die Regeln befolgten, wurde der Heimaufenthalt als Erfolgsgeschichte gesehen. Die jungen Frauen, vor dem Heimaufenthalt schmutzig und voller Ungeziefer, mürrisch und misstrauisch, zeigten schon «nach wenigen Tagen einen aufgehellten Blick», stand etwa in einem Bericht.
Und nicht nur das: Auch ihre Haltung wurde «straffer», ihr «Benehmen freier und offener». Man erlebte in den meisten Fällen den Wandel des verwahrlosten Strassenkindes zur «rotwangigen jungen Frau». Auch wenn man sich bewusst war, dass die meisten Bewohnerinnen sich unfreiwillig im Heim aufhielten, sah man sich als «rettenden Strand». Der reibungslose Tagesablauf stand im Zentrum, um die Bewohnerinnen vor sittlicher Gefährdung zu bewahren.
Strafe muss sein
Kontrollen waren nötig und Vergehen gegen die geltenden Regeln wurden bestraft – mit Ermahnungen, Warnungen, Essensentzug und Isolation und im schlimmsten Falle mit dem Verweis aus dem Haus und der Rücksendung an die zuweisende Instanz. Eine 16-Jährige beispielsweise, die sich nicht einfügen wollte, wurde 1892 zurückgeschickt, wo sie vermutlich niemals ankam. Eine andere Frau galt als «geistig zurückgeblieben» und wurde wegen des «zuchtlosen Verhaltens» auf den Wienerberg geschickt und benahm sich dort ebenfalls schlecht. Die Eltern wollten sie aber nicht mehr zurück. Schwer verletzt, aufgrund eines Suizidversuches, fand sie sich im Kantonsspital St. Gallen und später wieder bei den Eltern. Und weil sich ja nichts verändert hatte, endete sie in der «Irrenanstalt». Sie habe eigentlich «von Anfang an dort hingehört», hielt die Heimleitung fest.
Fluchten waren an der Tagesordnung, da das Heim ja keine geschlossene Anstalt war. Sie wurden stillschweigend akzeptiert. Ohne «Provokateurinnen» lief es sowieso besser im Heim und man konnte sich auf das Tagesgeschäft konzentrieren. 1948 war von einem Mädchenheim in den Zeitungen zu erfahren, aus dem eine grössere Zahl Mädchen geflohen waren. Grund war eine Protestaktion gegen das Heimkomitee, aufgrund der Kündigung einer Vorsteherin, die sich offensichtlich nicht gegen die jungen Frauen durchsetzen konnte. Sie hatte die Hausregeln gelockert, den Schützlingen Liebe entgegengebracht, ihnen Freiheiten eingeräumt.
Gemeinsam ergriff man die Initiative und sammelte Unterschriften und schrieb Briefe an Amtsvormundschaften. Einer gelangte an das Departement des Inneren des Kantons St. Gallen. Er war später Auslöser für eine Inspektion des Erziehungsrates im Mädchenheim. Die geflüchteten Mädchen wurden aufgegriffen und wieder ins Heim zurückgeschickt und der zuständige Pfarrer verharmloste in seinem Jahresbericht das Geschehene mit den Worten: Es sei «nach einer nicht sehr angenehmen Woche alles wieder in Ordnung».
Auch ein Zuhause gefunden
«Es war halt schön im Asyl, es waren drei schöne Jahre, die ich gewiss nie in meinem Leben vergesse. Und doch freue ich mich, bis ich wieder einmal heim zu den Eltern kann», schrieb ein Mädchen zu ihrem Aufenthalt. Es hatte eine Familie gefunden und viel gelernt. Ab 1910 wurden die Arbeitsabläufe mit Schulunterricht ergänzt, um den jungen Frauen eine Ausbildung zu ermöglichen. Bei den Heimbewohnerinnen fand ein Umdenken statt. Die Populärkultur der 1950er-Jahre zog in die Mädchenzimmer ein. Man schwärmte für Diven, Filme und Musik und trug Jeans und kurze Jupes.
Die Kosten stiegen, die Belegungszahlen nahmen ab. Die Frauenbewegung der 1950er mit Forderungen gegen die Diskriminierung der ledigen Mütter und für das «Recht auf ein Kind ohne Mann» wurden thematisiert. Die gesellschaftliche Verurteilung nahm dadurch ab und 1974 schloss das Mädchenheim Wienerberg die Tore und funktionierte sich zum noch heutigen Wohn- und Pflegehaus um.
Die gewandelten Ausbildungsziele des Mädchenheims und die veränderte Wahrnehmung der jungen Frauen bilden den gesellschaftlichen Strukturwandel und die damit verbundene Verschiebung der Rolle der Frau in der Gesellschaft gut ab. 1971 stimmten die Schweizer Männer endlich dem Frauenstimm- und -wahlrecht zu. 1978 traten die Gleichstellung des ehelichen und unehelichen Kindes, sowie die Verbesserung der Rechtsstellung der unverheirateten Mütter in Kraft.
Ab 1981 – mit der Verankerung der Gleichstellung von Mann und Frau in der Verfassung – wurde es auch selbstverständlicher, Berufe zu erlernen, die vorher Männern vorbehalten gewesen waren. Doch weiterhin werden Frauen in der Schweiz in vielen Bereichen diskriminiert und die bürgerliche Ordnung des 19. Jahrhunderts, sowie die Selbstverständlichkeit der Gleichheit und Diversität, sind noch immer nicht ganz aus den Köpfen gewichen.