Entführt, vergewaltigt, gedemütigt, instrumentalisiert
Als es im Jahr 2014 geschah, berichteten die Medien während Wochen davon. Doch nach einiger Zeit ist die Suche nach den, von Terroristen verschleppten Schülerinnen, im Sand verlaufen. Edna O’Brien suchte in Nigeria Spuren, fand sie und erzählt in ihrem eindrücklichen Buch davon.
Noch viel schlimmer geht nicht immer. Die Geschichte von Maryam und den mit ihr entführten Mädchen zeugt von roher Gewalt. Die 90-jährige Autorin erzählt von der Entführung der Schülerinnen aus dem Internat in ein Dschungelcamp. Dort wurden die jungen Mädchen von grölenden Männern öffentlich vergewaltigt, gedemütigt und schliesslich versklavt. Auch die Nacht bot ihnen keine Ruhe und Sicherheit. Eines der Mädchen wurde für das Aufschrecken aus einem bösen Traum mit dem Herausschneiden seiner Zunge bestraft. Es half bloss, alles schweigend zu erdulden, um überleben zu können.
Edna O’Brien, die grosse ältere Dame der irischen Literatur, war 88 Jahre alt, als sie auf zwei Reisen nach Nigeria entflohene Entführte traf und beschloss, deren schreckliche Geschichte der Welt zu erzählen. Die Entführer der Boko Haram stehen den Taliban nahe und wollen weltweit die Scharia durchsetzen und westliche Einflüsse bekämpfen. Dafür brennen sie Dörfer nieder, erniedrigen Menschen, metzeln jeden, der gegen sie aufmuckt, einfach herunter. Es sind die brutalsten und schlimmsten Terrorvereinigungen auf der Welt.
276 Mädchen, im Alter von 15 bis 18 Jahren, wurden im April 2014 verschleppt. Von mehr als 100 fehlt bis heute jede Spur. Mittlerweile sind die Bestrebungen, sie noch aufzuspüren, sowieso im Sande verlaufen. Doch auch den Geflüchteten geht es nicht wirklich gut. Sie haben Ablehnung, Unverständnis und Schamgefühle zu umgehen und werden noch zusätzlich dafür bestraft, was ihnen angetan wurde.
Mariam vereint viele Mädchengeschichten
Am Anfang von O’Briens Recherchen stand ein Artikel über ein Mädchen, das überlebte und floh. Mit ihrem Baby gelang ihm nach zweijähriger Folter und Umerziehung im Camp die Flucht durch den Wald, die Flucht aus der Zwangsheirat, die auch irgendwie Segen war für sie, um überhaupt zu überleben. Hungernd und schwer traumatisiert ging es durch Wildnis, Verlorenheit und Angst. Die Freundin Buki, die auch mit ihr floh, wurde während der Flucht mehr und mehr zur Gegnerin. Die Mädchen hatten nie gelernt, mit ihren schweren psychischen Verletzungen umzugehen.
Maryam, die Protagonistin, vereint viele der Mädchenfiguren in sich. Als Ich-Erzählerin schildert sie das schockierende Geschehen um sie herum und gleichzeitig beschreibt sie von einem ferneren Blickwinkel die Taten. «Wir konnten nicht sprechen. Wir waren zu jung, um zu wissen, was geschehen war oder wie wir es nennen sollten», sagt sie.
Das Problem der etwas konstruiert wirkenden Erzählstimme löst sich im zweiten Teil des Buches ganz auf. Dann wird Maryams dramatische Odyssee durch Polizeistationen, Hilfsorganisationen und vor allem durch verschiedene Instanzen der Grossfamilie erzählt, die ihr mit Grausamkeit einen zweiten seelischen Tod zufügen. Ein schrecklicher Höhepunkt ist der festliche Akt, in dem die staatlichen Würdenträger ihre Erfolge feiern, während dem Opfer das Kind weggenommen wird.
Die grenzenlose Tragödie, die gerade unter Frauen entsteht, wenn diese im Griff von Autoritätsgläubigkeit, von Glaubens- oder Aberglaubens-Systemen ihr Leben und ihre Kinder den Systemen opfern müssen, wird von Edna O’Brien, als Anwältin unterdrückter Frauen, in Maryams Überlebensgeschichte sehr eindrucksvoll erzählt.