Integration, Macht und Schluckbeschwerden – eine Glosse

Integration, Macht und Schluckbeschwerden – eine Glosse

Luise F. Pusch hat ihre Glosse “Integration, Macht und Schluckbeschwerden” aus dem Jahre 2006 aktualisiert und erstmals ins Netz gestellt. Sie finden den Text hier. Er ist aktueller denn je.

“Heute morgen habe ich erst ein leckeres Frühstück und danach meine Blutdruckpille in mich integriert.” Nein, so sagen wir das nicht: Das Frühstück habe ich gegessen oder mir einverleibt, die Pille geschluckt.

Dennoch: Da laut Duden “Integration” u.a. die “Eingliederung in ein größeres Ganzes” bedeutet, habe ich sicher sowohl mein Frühstück als auch die Pille in das größere Ganze namens Luise integriert. Ich selbst habe mich bei diesem Prozess kaum verändert, wohl aber Frühstück und Pille, und zwar bis zur Unkenntlichkeit.

Zu der Vereinigung der beiden deutschen Staaten nach 1989 sagten viele enttäuschte Ossis, die BRD hätte die DDR geschluckt. Zumindest was den Namen betrifft, haben sie recht: Das neue “integrierte” Gebilde heisst wie der mächtigere der beiden vorigen Teilstaaten: BRD.

Integration ist oft nur ein Geschlucktwerden des Kleineren durch das Größere. Aber “Integration” klingt abstrakter und friedlicher. Je nach Grösse und Zusammensetzung kann das Geschluckte dem Grösseren Schluck- oder Magenbeschwerden verursachen. Manchmal überfrisst sich das Grössere und erholt sich nicht wieder. Fortlaufend geschieht dies zum Schaden aller in der Wirtschaft – ein Musterbeispiel war ENRON.

Musterbeispiele im Sinne des Schluck-Modells der Integration sind auch das traditionelle Eherecht und die traditionelle Männersprache: In der Ehe nach altem Recht wurden Mann und Frau “eine Person” – und diese Person war der Mann: Im 19. Jahrhundert wurde die Frau durch die Ehe zum Besitz des Mannes; sie “schenkte” ihm Kinder, die rechtlich ebenfalls ihm gehörten. Die Sprache machte dies noch einmal deutlich: Unter dem Namen des Eheherrn wurden alle Familienmitglieder zu einem Ganzen zusammengefasst, integriert.

Und eine Gruppe von Frauen wurde symbolisch zu einer Männergruppe, sowie ein einziger Mann hinzukam. Sie kennen das oft zitierte Beispiel: “99 Schweizerinnen und ein Schweizer sind zusammen 100 Schweizer”. Gegen diese Art von Integration protestieren Frauen weltweit seit Jahrzehnten und bestehen auf Differenzierung statt Schluck-Integration.

Angesichts wachsender Zahlen von Schutzsuchenden wird die Frage “Welches Modell können wir dem Schluckmodell entgegensetzen?” immer dringlicher. Naheliegende Antwort: Nicht Gleichschaltung, sondern Lob der Vielfalt. Vielfalt ist Reichtum, ist normal und willkommen.

Ein berühmtes Schweizer Buch aus den siebziger Jahren beginnt mit dem Satz: “Ich bin jung, reich und gebildet – und ich bin unglücklich, krank und allein.” (Fritz Zorn, Mars). Der Autor gehört also nicht nur der Gruppe der Bevorzugten, sondern gleichzeitig der Gruppe der Benachteiligten an. Ich habe diesen Satz nie vergessen und verwende ihn in Diskussionen über die Ungerechtigkeit der Welt gern als Beispiel.

Wir alle haben so viele Eigenschaften. Und mit jeder dieser Eigenschaften gehören wir einer Gruppe von Menschen mit denselben Eigenschaften an. Die Zugewanderten mögen eine andere Sprache sprechen als ich, aber viele sind ältere Menschen wie ich, sind Frauen, Mieterinnen, Übergewichtige, Feministinnen, Nichtmotorisierte, Musikliebhaberinnen wie ich. Oder sie sind Männer, jung, magenkrank, untergewichtig, alleinstehend, arbeitslos, fußballbesessen, Hip-Hop-Fans und Schachspieler wie du. Durch diese Vielfalt von Eigenschaften, die wir mit vielen oder allen (z.B. das Menschsein, die Verletzlich- und die Sterblichkeit) anderen teilen, sind wir alle bereits völlig und bestens vernetzt und integriert, wir müssen es uns nur viel eindringlicher bewusst machen.

Luise F. Pusch ist Professorin für Sprachwissenschaft. Schriftstellerin und Publizistin. Lebt in Hannover und Boston.

http://www.fembio.org

Hauptbild: Luise F. Pusch

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