Koyo Kouoh ist Meret-Oppenheim-Preisträgerin 2020
Koyo Kouoh ist Meret-Oppenheim-Preisträgerin 2020. Die schweizerisch-kamerunische Kuratorin erhält im Ausland höchstes Lob. In der Schweiz dagegen fand sie nie viel Echo – bis jetzt. Wir haben sie in der Schweiz getroffen, wo sie wegen der Pandemie festsitzt.
Koyo Kouoh, die 2015 von der New York Times als «eine der herausragendsten Kunstkuratorinnen Afrikas» bezeichnet wurde, ist immer in Bewegung. Selbst mitten in der Pandemie. Aktuell lebt sie in Südafrika. Genauer in Kapstadt. Dort leitet sie das Zeitz Museum of Contemporary Art Africa (MOCAA), das die weltweit grösste Sammlung zeitgenössischer afrikanischer Kunst besitzt. Swissinfo traf sie während eines kurzen Abstechers in der Schweiz. Ihr Mann lebt in Basel, aber ihr Herz sei in Zürich, sagt sie. Danach sollte es weiter nach Paris gehen, um anschliessend zu versuchen, nach Südafrika zurückzufliegen. Der Plan misslingt – Kouoh sitzt immer noch in der Schweiz fest. Die 1967 in der Küstenstadt Douala in Kamerun geborene Kouoh kam als Teenagerin nach Zürich, um zu ihrer Mutter zu stossen, die hier lebt. Hier absolvierte sie ein Bank- und Wirtschaftsstudium, bevor sie sich den Künsten zuwandte.
SWI swissinfo.ch: Wie war der damalige Umzug von Kamerun in die Schweiz?
Koyo Kouoh: Ich wurde in der Küstenstadt Douala geboren, die sehr stark geprägt ist von Lebendigkeit, Aktivität und vom Lärm des städtischen Lebens. Als ich also nach Zürich kam, fand ich es extrem ruhig, klein, sauber; alles, was für die Schweiz charakteristisch ist.
Für mich war es eine emotionale Reise, sehr bereichernd, wieder bei meiner Mutter leben zu können und eine neue Sprache zu lernen – Schweizerdeutsch, das ich immer sprechen wollte. Kamerun war bis zum Ersten Weltkrieg eine deutsche Kolonie gewesen, und viele deutsche Wörter sind in unserem lokalen Dialekt noch immer präsent.
Reifte Ihr Interesse für die Künste schon länger in Ihnen oder geschah es zufällig?
Die Leute haben viele Stoffe, und Sie haben einen Stoff für Kreativität und für die Kunst, oder auch nicht. Ich bin gegen die Idee, dass man nur in bestimmten Kontexten oder mit einer bestimmten Erziehung oder einem bestimmten Hintergrund Zugang zu kreativen oder künstlerischen Ideen erhält oder damit in Berührung kommt.
Ich stamme aus sehr bescheidenen Verhältnissen, meine Grossmutter war Näherin. Man kann nicht in Afrika aufwachsen, ohne Zugang zu Kreativität zu haben. Tanz, Musik, Kleidung sind allgegenwärtig. Man braucht keine spezielle Schulbildung, das ist einfach Teil des Lebens.
1996 verliess Kouoh die Schweiz, um in Dakar, Senegal, ein Kunstzentrum zu gründen – die Raw Material Company. Ein wegweisender Start, denn seither konzentriert sie sich mehr auf den Aufbau von Kunstinstitutionen auf dem afrikanischen Kontinent und in Europa als auf die Förderung einzelner Künstlerinnen und Künstler. Auch die Stossrichtung ihres Schaffens war von Anfang an klar: Den Eurozentrismus des globalen Kunstzirkels zu überwinden.
2014 haben Sie ein Projekt für die Manifesta 11 vorgeschlagen, die Europäische Biennale für zeitgenössische Kunst 2016 in Zürich. Der Vorschlag wurde abgelehnt, aber er hat in der lokalen Kunstszene hohe Wellen geschlagen. Um was ging es Ihnen damals?
Ich habe mich nie für eines dieser Biennale-Dinger beworben, ich wurde vielmehr angefragt. Es war die Zeit, als ich mehr nachdachte über den Kreislauf der Kunstbiennalen an sich und das Spektakel, das sie produzieren, sowie das Stadtmarketing, um das es immer auch geht.
Auch wenn mein Vorschlag nicht erfolgreich war, fand ich ihn sehr stark, denn ich bin auch heute noch überzeugt, dass er historische Aspekte über Zürich in den Vordergrund rückt, die nur sehr wenige Menschen kennen.
Was zum Beispiel?
Es ist ein so winziger Ort, der so voller Kultur, voller Reichtum ist. Ich wollte mir die Risse anschauen und nicht den Lack. Das wäre etwas gewesen, was sich in die Stadt “eingeschleust” hätte, anstatt die Stadt ihren schönen Sehenswürdigkeiten auszusetzen.
Als ich über diesen Vorschlag nachdachte, hatte ich das Gefühl, dass Zürich kein Ort ist, der eine weitere zeitgenössische Biennale braucht, sondern ein weiteres Gespräch. Damals war die Schweiz völlig gefangen im ganzen Gerede über Rassismus sowie in der Kontroverse der Schweizerischen Volkspartei über die Begrenzung der Einwanderung. Das ist ein Thema, das immer wieder auftaucht.
Es wäre wirklich gut, Zürich und die Schweiz mit den grösseren Erzählungen des 20. Jahrhunderts zu verbinden: Postkolonialismus, Postmoderne, Migration, Rassismus, Kolonialismus in seinen vielfältigen Formen.
Die enge Zusammenarbeit mit den Menschen in der unmittelbaren Umgebung einer Institution ist für Kuratoren wie Kouoh, die das Museum zu einem lebendigen Ort machen wollen, fundamental. Andernfalls bleibt dieses ein blosses Kabinett mit antiken und exotischen Objekten.
Wie gross war die Überraschung, dass sie nach jener Absage in der Schweiz nun den Meret-Oppenheim-Preis gewannen?
Eine totale Überraschung. Ich habe in der Schweiz nie als Kuratorin, Kulturproduzentin oder Ausstellungsmacherin gearbeitet. Ich bin vor genau 24 Jahren nach Senegal gezogen, mein gesamter beruflicher Werdegang und mein berufliches Coming-of-Age fanden also nicht in der Schweiz statt.
Ich verbrachte meine Jugend hier, und ich schätze diese Zeit sehr. Ich war mir nicht bewusst, dass das Bundesamt für Kultur in Bern mich in irgendeiner Weise auf dem Radar hat. Aus dem einfachen Grund, weil die Themen, die mich interessieren, die Ideen, die ich in meiner Arbeit verfolge – afrikanische Diaspora, prozesshafte Konzeptkunst, Postkolonialismus, Identitätspolitik – hier nicht unbedingt populär sind.
In diesen Bereichen hatte ich keine Gelegenheit, hier zu arbeiten. Aber das ist für mich in Ordnung, denn ich betrachte die Schweiz nicht als potenziellen Arbeitsort.
Was ist noch von Ihren Schweizer Verbindungen übrig?
Das ist eine emotionale Sache. Ich liebe das Land, ich habe einen Schweizer Pass, meine Familie ist hier, und es ist erst drei Jahre her, dass ich zum ersten Mal von Pro Helvetia eingeladen worden war, an der Biennale in Venedig den Salon Suisse zu kuratieren (einen Raum parallel zur Ausstellung des offiziellen Schweizer Pavillons, die Red.). Aber über Auszeichnungen denke ich nie wirklich nach. Ich tue, was ich tun muss.
Sie denken aber an die Figur der Künstlerin Meret Oppenheim?
Sicher! Als ich anfing, mich für Kunst zu interessieren, war die surrealistische Bewegung eine offensichtliche Referenz und das Erbe von Dada sehr präsent. Da war Meret Oppenheim natürlich eine grosse Figur. Es liegt auch daran, dass es damals für eine Frau eine ziemliche Leistung war, sich unter all den surrealistischen Supermachos wie André Breton zu behaupten.
Ausserdem ist Feminismus für mich eine Selbstverständlichkeit. Ich engagiere mich sehr stark für Frauenstimmen in der Kunst. Aber ich mache nicht wirklich viel Lärm um sie – ich brauche keine Fahne zu tragen, sondern es geschieht ganz natürlich.
Die Schweiz hat ein seltsames Verhältnis zur Moderne. Obwohl Dada in Zürich seinen Anfang nahm, wird die Bewegung in den Schulen noch immer sehr zaghaft gelehrt.
Sehen Sie, in den 1980er-Jahren wurde der Geist des Cabaret Voltaire in gewisser Weise wiederbelebt. Aber wir müssen bedenken, dass es in der Schweizer Kultur eine sehr grosse Spezialisierung gibt.
Schauen Sie sich an, wie die Bildung in der Schweiz strukturiert ist: Die jungen Menschen sind schon sehr früh in ihren Bereichen gefangen, und sie haben keinen Zugang zum Wissen anderer Bereiche.
Die Schweiz hat auch einen grossen Minderwertigkeitskomplex, was ihre Grösse und ihre Autonomie betrifft. Es gibt keine wirkliche Einheitlichkeit im Land. Wir sprechen Deutsch, Französisch, Italienisch – die Schweiz als solche existiert nicht.
Ich habe über die Jahre beobachtet, dass es ein Land ist, das gerne auf dem Trottoir bleibt und den Asphalt für den Strassenbelag zur Verfügung stellt – und damit ihr Geld verdient. Das sieht man auch, wenn man die Kolonialstudien und die Kolonialgeschichte betrachtet.
Die Schweiz behauptet immer: ‘Oh, wir waren neutral, wir waren keine Imperialisten, wir haben uns nie an all dem beteiligt’. Natürlich war sie das! Und ist es bis heute. Denken Sie zum Beispiel daran, dass der grösste Markt für Rohstoffe in Zug liegt.
Eine neue Generation von Schweizer Historikerinnen und Historikern hat in den letzten Jahren daran gearbeitet, die Büchse der kolonialen Vergangenheit und Gegenwart der Schweiz zu öffnen. Das neue Wissen aber hat die Schulen noch nicht erreicht.
Bis das geschieht, wird noch einige Zeit verstreichen. Das Gute und das Schlechte an diesem Land ist, dass alles sehr langsam geht. Es ist schlimm, wenn man in Eile ist, aber es wird passieren. Langsamkeit hat seine Vorteile, aber in der Zeit, in der wir jetzt leben, sollten die Dinge schneller gehen.