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Landesverräter Ernst S. kommt ins Kino

Landesverräter Ernst S. kommt ins Kino

Am 24. Oktober kommt der «Landesverräter» ins Kino. Alt Stadtarchivar Ernst Ziegler nimmt die tragische Geschichte des Ernst S. zum Anlass, um die Geschichte des Nationalsozialismus in St.Gallen zu rekapitulieren. Im vierten Teil zeichnet er nach, wie der Gaiserwalder zum «Landesverräter» wurde.

 

Im Dezember 2012 sprach ich im Rahmen der vom Stadtarchiv St.Gallen organisierten Vortragsreihe «Stadtgeschichte im Stadthaus» über «Ernst S. 1942». 2016 kam es aufgrund meiner Beschäftigung mit Ernst S. und Niklaus Meienberg zu einer Zusammenarbeit mit der «Contact Film Zürich», die einen Kinofilm plante mit dem Arbeitstitel «Landesverräter Ernst S.»; ich wurde als «historischer Berater» engagiert. Ebenfalls 2016 fungierte ich als «Experte» für die Hintergrundsendung «Doppelpunkt» des Radio SRF 1 mit dem Arbeitstitel «75 Jahre nach der Erschiessung des Ernst S. – Nachhall einer umstrittenen Hinrichtung».

Wegen dieser Engagements studierte ich im Januar 2017 – wie schon 2012 – noch einmal die als «geheim» eingestuften Akten über Ernst S. im Bundesarchiv in Bern. Unter dem Titel «Ein ‘Landesverräter’ aus St.Gallen – Ernst S. (1919–1942)» erschien dann 2019 ein rund zwanzig Seiten umfassender Beitrag in den «Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung».

Das Leben des Ernst S.

Ernst S. wurde am 8. September 1919 in St.Gallen geboren, war von Beruf Hilfsarbeiter, Ausläufer, Vertreter und wohnte 1942 an der Zeughausgasse 20 in St.Gallen. Im Militär war er Fahrer in einer Feldkanonen-Batterie. Ernst S. war 1939 zweimal in der Feld-Artillerie-Rekrutenschule in Frauenfeld und Bière und leistete danach im November 1939 bis September 1941 mit Unterbrüchen über ein Jahr lang Aktivdienst. Dann wurde er aus dem Militärdienst entlassen. Ernst S. war musikalisch und spielte Trompete. Seit 1936 war er wie mein Vater (seit 1927) Mitglied der Musikgesellschaft Abtwil-St.Josefen. Er hatte auch eine gute Stimme, nahm Gesangsstunden und er sang im Extrachor des Stadttheaters St.Gallen als erster Tenor. Nun waren Angehörige des Theaterensembles eingeschriebene Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, der NSDAP.

Ob Ernst S. im Stadttheater von «nationalsozialistisch gesinnten Ausländern» infiziert und angeworben wurde, wissen wir nicht. Sicher ist, dass er Kontakt hatte mit dem «deutschen Reichsangehörigen» August Schmid (geb. 1905) aus Immenstadt, aufgewachsen in St.Gallen und «assimiliert», der Abwart des deutschen Konsulats in St.Gallen war. Dieser Schmid veranlasste S., dem Deutschen Konsulat in St.Gallen «Angaben über alles militärisch Wissenswerte zu verschaffen», und dieser Schmid war es dann auch, der als Mitangeklagter S. mit seinen Aussagen während des Prozesses vor allem belastete.

Ernst S. war kein Tugendbold; aber ein «miserabler Kerl», wie es in einem Brief seiner Heimatgemeinde Hettlingen heisst, war er nicht. Im August und September 1936 und von Januar bis Juni 1937 war er im freiwilligen Arbeitsdienst auf der Alpe Cadonico (Prato) und in Carona im Tessin. Dort lernte man Ernst S. «während dieser Zeit als fleissigen und willigen Burschen kennen» und war «mit seiner Führung» zufrieden. Der «hübsche Bursch», etwas labil, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, war ein «lustiger Schnuderi», der nicht gefördert wurde und oft auch nicht in bester Gesellschaft verkehrte.

Verhaftung und Anklage

Anfang Januar 1942 wurde Ernst S. gestützt auf Aussagen seines homosexuellen Zimmernachbarn verhaftet und schliesslich angeklagt wegen «Verletzung militärischer Geheimnisse». In der umfangreichen Anklageschrift sind sämtliche Verfehlungen minutiös aufgeführt.

Das Begnadigungsgesuch

Am 18. Oktober 1942 reichte Ernsts amtlicher Verteidiger, der Rechtsanwalt und Hauptmann Rolf Zollikofer (1908–1996) aus Rapperswil, an die Bundesversammlung in Bern ein Gesuch um Begnadigung ein. Darin lobte er zuerst «die sachliche und überaus sorgfältige Behandlung des Falles» durch das Divisionsgericht. Es ging Zollikofer nicht darum, das Urteil aus juristischen Gründen zu kritisieren, sondern die Einreichung des Begnadigungsgesuches hatte den Zweck, wie Zollikofer schrieb, Ernsts Fall einer Instanz zu unterbreiten, deren Aufgabe sich darin erschöpfen sollte, die rein menschlichen Werte und ethischen Momente zu beurteilen, die es ihr erlaubten, «dem Verurteilten die nachgesuchte Gnade zuzubilligen». In diesem Gesuch spielten dann auch eher «gefühlsbetonte Momente» und weniger «richterliche Erkenntnisse» eine Rolle.

Betreffend Spionage schrieb Zollikofer über Ernst S.: «Dass er den Deutschen Organen sofort als geeignetes Werkzeug für ihre Spionagedienste erkennbar war, ist ebenso verständlich. Ein Blick rund in unserm Land herum zeigt uns zur Genüge, unter welchen Elementen die Deutschen ihre Söldlinge (lies Quislinge) suchen und auch finden: unter krankhaft geltungsbedürftigen Intellektuellen, unter Akademikern, welche Geld notwendig haben, und unter Elementen von der Art des Verurteilten.»

Beigetragen für «die Deutsche Spionage» zu arbeiten, habe auch, so Zollikofer, dass im Verurteilten «keine positive staatsbürgerliche Einstellung, keine Schweizerisch-vaterländische Gesinnung» sich zu entwickeln vermochte. Aufgrund seiner Ausführungen plädierte der Verteidiger für eine «Umwandlung der Todesstrafe in lebenslängliches Zuchthaus», weil «die Todesstrafe unter den im Falle S. obwaltenden Umständen eine zu harte Sühne» darstelle.

Verurteilung und Hinrichtung

Nachdem das Begnadigungsgesuch im Oktober 1942 von der Bundesversammlung mit 176 gegen 36 Stimmen abgelehnt worden war, wurde Ernst S. zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung fand am 10. November 1942 gegen Mitternacht in einem Wäldchen mit dem Namen «Flurhof», «in der Nähe von Punkt 6633» zwischen Oberuzwil und Jonschwil, statt. «Über die Vollstreckung der Todesstrafe» liegen ein Protokoll und ein «Durchführungsbefehl» bei den Akten. Im «Durchführungsbefehl» sind Abfahrt und Abmarsch der Autos mit den Offizieren und der «Gefängnisverwaltung St.Gallen», des Leichenautos mit dem Sarg sowie des Exekutionspelotons von zwanzig Soldaten geregelt.

Um 23.25 Uhr war alles bei der militärisch abgesperrten Hinrichtungsstätte versammelt. Wörtlich hält das Protokoll vom 11. November 1942 fest: «Auf dem Richtplatz verliest der Grossrichter das Urteilsdispositiv und erteilt die Ermächtigung, den Verurteilten durch Erschiessen vom Leben zum Tode zu bringen. Daraufhin gibt der Vollzugsbeauftragte dem das Verfahren leitenden Offizier, Hauptmann Egloff, den Befehl, den Verurteilten durch die hiezu kommandierte Abteilung von 20 Mann des Stabes Feld-Artillerie-Regiment 7 erschiessen zu lassen.

Der Feldprediger, Herr Hauptmann Geiger, spricht dem Verurteilten mit wenigen Sätzen zu. Die Exekutionsmannschaft, in zwei Gliedern aufgestellt mit sechs Schritt Abstand vom Verurteilten, wird zum Schuss kommandiert. Die anwesenden Sanitäts-Offiziere, Hauptmann Notter und Oberleutnant Jovanovits, stellen die Wirkung der Schussabgabe fest. Hauptmann Egloff wird zur Abgabe eines zweiten tödlichen Schusses kommandiert. Es wird der Tod festgestellt. Ende der Exekution: 23.35 Uhr. Das Verhalten des Verurteilten auf der Fahrt zur Hinrichtungsstätte und bei der Erschiessung war ein völlig ruhiges und gefasstes.»

Die Trauerfamilie

Über die Beerdigung des Hingerichteten gibt es verschiedene Beschreibungen. Nach amtlichen Schriftstücken musste der Feldprediger «die Angehörigen unmittelbar nach der Exekution zur schicklichen Tageszeit benachrichtigen». – Der Tote wurde in einem Sarg ins Kantonsspital St.Gallen überführt, wo eine «Leichensektion» vollzogen wurde. Die Bestattung erfolgte später «nach Anordnung des Feldpredigers». Ernsts Nichte erzählte mir, weil für einen «Landesverräter» weder ein Kreuz noch ein Grabstein zulässig waren, habe man Ernst schliesslich auf dem Friedhof Feldli in einem namenlosen Grab beerdigt. Die «Kosten der Exekution» beliefen sich nach einer Zusammenstellung des Kommandos des Feld-Artillerie-Regiments 7 auf 183 Franken (vier Wachsfackeln 6.80 Fr., Transportkosten Leichenauto 90.60 Fr., Benzin für die Militärfahrzeuge 85.60 Fr.).

Die Trauerfamilie erhielt eine einzige Beileidskarte vom «Gefangenenwart» Gustav Gasser: «Liebwerte Trauerfamilie, während den letzten 10 Monaten seines unglücklichen Erdenlebens hatte ich die Pflicht, Ihren Sohn und Bruder Ernst im Bezirksgefängnis zu betreuen. Sein tragisches Lebensende greift mir tief in die Seele, und hätte ich nicht die Genugtuung, für ihn getan zu haben, was in meinen Kräften lag, ich müsste verzweifeln. Hiermit entbiete ich dem lieben unglücklichen Ernst meinen letzten Gruss und den schwer geprüften Angehörigen mein tief empfundenes Beileid.» Zusammen mit Ernst S. wurde auch dessen Familie verurteilt und in Sippenhaft genommen.

Pro und contra Todesstrafe

Mein in einer deutschen Zeitschrift erschienener Aufsatz brachte mir zum Teil gehässige Kritik ein, weil ich mit meinem Vater und meiner Tante Paula, die beide Ernst S. noch gekannt haben, mit dem Verteidiger Rolf Zollikofer und meinem ehemaligen Lehrer Edgar Bonjour (1898–1991) gegen die Todesstrafe war. Natürlich war und ist mir bewusst, dass, wer heute die Lebensläufe und Todesurteile der siebzehn Landesverräter studiert, versuchen muss, sich in die damalige Zeit zu versetzen. Ich habe Vorträge gehalten im In- und Ausland über die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs und habe immer betont, ich könne für mich nicht die Hand ins Feuer legen, dass ich zu jener Zeit unter jenen Umständen nicht auch «Heil Hitler» gerufen und die Hand ausgestreckt hätte oder eben für die Todesstrafe gewesen wäre.

Man muss bedenken, dass die Angst vor Hitler und den Nationalsozialisten von Anfang an gross war; ich rede da aus eigener Erfahrung. Im Juni 1940 fand sich Generalmajor Willibald Freiherr von Langermann und Erlencamp (1890–1942) beim Wachtposten Goumois an der Schweizer Grenze ein und am 15. Juli 1940 stand der Reichsführer SS Heinrich Himmler mit Gefolge am Schlagbaum bei Les Verrières.

Klaus Urner hat in seinem Buch «Die Schweiz muss noch geschluckt werden!» die Aktionspläne Hitlers gegen die Schweiz ausführlich behandelt. (Deutsche Soldaten sollen damals gesungen haben: «Die Schweiz, das kleine Stachelschwein, nehmen wir auf dem Rückweg ein.») Im sogenannten «Bergier-Bericht» steht: «Als im Frühjahr 1940 das nationalsozialistische Deutschland im beispiellosen Siegeslauf weniger Wochen die westlichen Demokratien schlug, Paris besetzte und nahezu das gesamte europäische Festland seiner Herrschaft unterwarf, geriet die Schweiz in eine noch nie erlebte Situation.»

Zu dieser Angst kam die Wut des Volkes über die «Nazis» sowie ihre Sympathisanten, und die war in St.Gallen gross. Sie wuchs vor allem nach der Kapitulation von Stalingrad Anfang 1943 und gegen Ende des Krieges. Gemäss «St.Galler Tagblatt» vom 11. November 1942 war zwar «in Räten und Volk die grundsätzliche Ablehnung der Blutsühne fest verwurzelt», trotzdem wurden die Todesurteile «von der grossen Mehrheit der Volksvertretung ausdrücklich sanktioniert».

Aber nicht nur «Volksvertreter», sondern auch hohe Offiziere und Theologen sowie «die Presse», kurz die «erdrückende Mehrheit des Schweizervolkes», war damals angeblich für die Todesstrafe für Verräter gewesen. Die sozialdemokratische «Volksstimme» schrieb am 11. November 1942: «Unsern Parteigenossen diene zur Information, dass sich prominente Sozialdemokraten für die Hinrichtung ausgesprochen haben, dass die Parteipresse im Allgemeinen die Hinrichtung befürwortete.» Viele Menschen baten aber auch um Begnadigung der Landesverräter, so beispielsweise der «Friedensapostel mit der weissen Fahne» Max Daetwyler und der Schriftsteller Walter Marti.

Edgar Bonjour schrieb in seiner «Geschichte der schweizerischen Neutralität»: «Es hat vielen Schweizern im Innersten widerstrebt, Blut fliessen zu lassen. Deshalb ist vorgeschlagen worden, die Täter sollten zwar zum Tode verurteilt, aber zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt werden mit der Bedingung, dass die Todesstrafe sofort an ihnen zu vollziehen wäre, wenn das Land von derjenigen Seite angegriffen werden sollte, nach welcher sie es verraten hatten.» Bonjour, mit seiner Abneigung gegen die Todesstrafe, trat damals öffentlich für diesen Vorschlag ein, fand damit «aber nur wenig Zustimmung».

 

Bild oben: Ernst S. glaubte berühmt zu werden und geriet dabei in Verdacht, ein Spion zu sein. (Bundesarchiv Bern)


Landesverrat?

Das Militärstrafgesetz kannte 1940 neben dem «militärischen Landesverrat» den Verrat «militärischer Geheimnisse». Für diese Tatbestände wurde «auf lebenslängliches Zuchthaus oder auf Todesstrafe» erkannt. Ernst S. hat «militärische Geheimnisse» verraten und wurde deswegen hingerichtet. Haben jene hohen Offiziere, von denen einer versuchte, «in defaitistischem Sinn auf Armeeleitung und Bundesrat einzuwirken» und «unentwegt für die ‘Anpassung’ an das Dritte Reich» eintrat, oder jener Korpskommandant, der ein «gefährlicher Widersacher» des Generals war und den die Reichsführung nach Ausschaltung Guisans gerne als Oberbefehlshaber (als Militärdiktator) gesehen hätte – haben solche Leute, frage ich mich, Landesverrat begangen?

Es gab damals immer noch hohe Schweizer Offiziere, die mit Vertretern der deutschen Wehrmacht oder der NSDAP privat verkehrten. Der Berner Nationalrat Markus Feldmann, der von 1951 bis 1958 Bundesrat war, schrieb 1943 General Guisan: «Wenn ich mir vergegenwärtige, welche geradezu haarsträubenden Dinge bei der Behandlung der Begnadigungsgesuche über die Organisation der deutschen Spionage gegen die Schweiz bekanntgegeben werden mussten […] so kann ich nur mit einem Gefühl der Erbitterung und Empörung mir vorstellen, dass schweizerische Offiziere unter den heutigen Umständen einen gesellschaftlich-kameradschaftlich betonten Verkehr mit dem deutschen Militärattaché als mit der  schweizerischen Würde vereinbar halten.»

Edgar Bonjour sagte 1975 im Zusammenhang mit der Erschiessung des Ernst S. zu Niklaus Meienberg: «Die Groβe laat me loufe, die Chlyne blibe bhange», womit er sich «in die vaterländischen Dornen gesetzt» hatte… Im Übrigen war er überzeugt, die Folgen des Vergehens von Ernst S. «seien ungleich geringfügiger gewesen als die Folgen des beabsichtigten Schrittes jener hohen Offiziere gewesen wären».

Bild Mitte: Schauspieler Dimitri Krebs spielt im Film auf hervorragende Art den Landesverräter Ernst Schrämli.
Bild unten: Regisseur Michael Krummenacher will dem hingerichteten Ernst S. ein Gesicht geben.

Erfahren Sie hier mehr über den Film!

Quellen und Literatur: 

  • Meienberg, Niklaus: Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. Zürich 1992.
    Dieser Text erschien in Buchform erstmals 1974 unter dem Titel «Ernst S. – Landesverräter (1919–1942)» in den «Reportagen aus der Schweiz» (1994) S. 162–240. Eine weitere Ausgabe erschien 1974 und 1977 in der «Sammlung Luchterhand».
  • Ziegler, Ernst: Ein «Landesverräter» aus St.Gallen – Ernst S. (1919–1942) in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung. Ostfildern 2019, 137. Heft, siehe dort Seite 105–107, alle nötigen Anmerkungen.
  • Gautschi, Willi: General Henri Guisan – Die schweizerische Armeeführung im Zweiten Weltkrieg. Zürich 1989.
  • Noll, Peter: Landesverräter – 17 Lebensläufe und Todesurteile 1942–1944. Frauenfeld/Stuttgart 1980, S. 83–92.

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