L’art c’est un jeu sérieux – Hommage an Avantgardistin Geta Brătescu im Kunstmuseum St. Gallen
Einem Zitat von Geta Brătescu folgend, “L’art c’est un jeu sérieux” (Die Kunst, das ist ein ernstes Spiel), widmet das Kunstmuseum St.Gallen dem Schaffen der Künstlerin eine retrospektiv angelegte Ausstellung. Es ist ein zentrales Anliegen der Präsentation aufzuzeigen, wie Geta Brătescu (Ploiesti 1926 – 2018 Bukarest) die entscheidenden theoretischen und formalen Debatten ihrer Zeit trifft und so als eine zentrale weibliche Scharnierfigur zwischen Klassischer Moderne und zeitgenössischer Erforschung des Ichs gelten kann.
Die Ausstellung zeigt mit Schwerpunkt den fotografischen, filmischen und performativen Aspekt, der bislang noch wenig beleuchtet wurde. Gerade in diesem Schaffensbereich ist die Künstlerin der internationalen Avantgarde nahe, trotz schwieriger Rahmenbedingungen in Bukarest. Neben collagierten Arbeiten auf Papier, fotografisch oder filmisch festgehaltenen Performances sowie repräsentativen Serien von Selbstporträts bilden Objekte aus fragilen Materialien einen zentralen Bestandteil der Präsentation.
Geta Brătescu zählt heute zu den bedeutendsten rumänischen Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Vor der umfassenden Ausstellung zu ihrem 90. Geburtstag in der Hamburger Kunsthalle, 2016, und der Präsentation im rumänischen Pavillon an der Biennale Venedig, 2017, war ihr Werk ausserhalb Rumäniens nur einem ausgewählten Kreis von Sammlerinnen und Sammlern bekannt.
Die St.Galler Ausstellung umfasst Werkserien in den Medien der Zeichnung, der Collage, der Fotografie und des Videos aus vier Jahrzehnten konsequenten Schaffens. Im Zentrum stehen dabei Werke aus den 1970er und 1980er Jahren, in denen Geta Brătescu als Protagonistin der neuen Ausdrucksweise der zeitgenössischen internationalen Avantgarde zu entdecken ist. In den 1970er und 1980er Jahren – der Zeit, in der die Vertreter der Minimal Art die Skulptur von ihrem Sockel holen und die Malerei aus ihrem Rahmen lösen – wird Brătescus Atelier in Bukarest zum Meta-Thema einer zutiefst persönlichen künstlerischen Praxis.
2019 inspirierte Geta Brătescu den St.Galler Designer Albert Kriemler zu seiner atemberaubenden Sommerkollektion für Akris. Dieser Umstand erschloss dem Kunstmuseum St.Gallen das Privileg, in der Schweiz eine erste Museumsausstellung zu Geta Brătescu zu realisieren, die in enger Zusammenarbeit mit Pernille Fonnesbech im Kunstforeningen GL Strand in Kopenhagen, der Ivan Gallery in Bukarest sowie der Galerie Hauser & Wirth entstand.
Einzigartige Biografie
Geta Brătescu wird am 4. Mai 1926 unter dem Mädchennamen Georgeta Comănescu in Ploiești, Rumänien, als einziges Kind einer Apothekerfamilie geboren. Ihr Interesse für das Zeichnen, die Literatur und das Theater zeigt sich früh und mündet schliesslich in eine entsprechende Studienwahl. 1945 schreibt sich Geta Comănescu parallel an der Kunsthochschule und an der Bukarester Fakultät für Literatur und Philosophie ein. 1948 wird sie aufgrund ihrer bürgerlichen Herkunft von der Kommunistischen Partei vom Hochschulstudium ausgeschlossen.
1951 heiratet sie den Ingenieur und passionierten Fotografen Mihai Brătescu, mit dem sie für die meisten fotografischen Projekte zusammenarbeiten wird. 1954 kommt der gemeinsame Sohn Tudor zur Welt. Ihren Lebensunterhalt verdient Geta Brătescu in den 1950er Jahren als technische Zeichnerin. 1957 wird sie in die Rumänische Künstlervereinigung UAP aufgenommen, eine Mitgliedschaft, die ihr Reisen in die UdSSR, nach Ungarn und nach Polen ermöglicht.
Seit 1963 arbeitet die Künstlerin für das 1961 gegründete Magazin Secolul 20 (20. Jahrhundert), das wichtigste intellektuelle Publikationsorgan Rumäniens. Über 20 Jahre lang verantwortet sie die grafische Gestaltung des Magazins, dessen Profil für ihre Laufbahn von entscheidender Bedeutung ist. Brătescu widmet sich einer Vielzahl von Themen der klassischen und modernen Literatur, die mit dem Programm der Zeitschrift eng verflochten sind. 1966/67 folgen erste Aufenthalte in Italien. Stilistisch wird ihr Werk in dieser Zeit durch die dokumentarische Zeichnung geprägt.
1969 nimmt Geta Brătescu ihr Studium an der Kunsthochschule Nicolae Grigorescu wieder auf. Sie erhält die Möglichkeit, in einem eigenen Atelier zu arbeiten. In den frühen 1970er Jahren reflektiert sie diesen Umstand als thematisches Motiv: das Atelier als konzeptueller Raum persönlicher Freiheit. 1974 erweitert sie das Thema der Freiheit vom Privaten ins Öffentliche. Stellvertretend für dominierende Kräfte, deren Einfluss man sich nicht entziehen kann, entstehen die Magneti in Oras (Magnete in der Stadt). In diesem Zusammenhang verfasst Brătescu ein Manifest, das aber bis zur rumänischen Revolution 1989 unveröffentlicht bleibt. In den späten 1970er Jahren widmet sich Geta Brătescu intensiv dem Film. In Zusammenarbeit mit dem rumänischen Konzeptkünstler Ion Grigorescu (geb. 1945 Bukarest) entstehen zwei Videos, 1977/78, die neben dem Atelier die Künstlerhände thematisieren. Diese Hände sind auch für die Medien der Zeichnung und der Collage wichtig, die zeitlebens den Dreh- und Angelpunkt ihres künstlerischen Schaffens bilden. In den 1980er Jahren beginnt sie mit geschlossenen Augen zu zeichnen. Ein Vorgehen, das sie auch später immer wieder aufnimmt. Sie ersetzt in den 1990er Jahren den Stift durch die Schere, so dass der Schnitt durch das Papier dem zeichnerischen Strich entspricht, der eine farbige Fläche umspannt und definiert.
Nachdem Geta Brătescu in den 1990er Jahren bereits international ausstellt, in Grossbritannien, Dänemark und in Deutschland, wird ihr Werk 2009 im mumok in Wien von Bojana Pejić unter dem Titel “Gender Check – Rollenbilder in der Kunst Osteuropas” in den Kontext der zeitgenössischen Rezeption gestellt. 2012 ist sie auf der von Okwui Enwezor kuratierten Triennale im Palais de Tokyo in Paris präsent, und 2016 zeigt Brigitte Kölle in der Hamburger Kunsthalle Brătescus bislang umfassendste Einzelausstellung. 2017 gestaltet Geta Brătescu als erste Frau den Pavillon ihres Heimatlandes Rumänien an der Biennale di Venezia zusammen mit der Kuratorin Magda Radu, der Kunstwissenschaftlerin Diana Ursan und dem Galeristen Marian Ivan. Am 19. September 2018 verstirbt Geta Brătescu mit 92 Jahren in Bukarest.