Love me Tender von Klaudia Reynicke läuft demnächst endlich in den Kinos an
Love Me Tender? Da erklingt gleich Elvis Presleys schmachtende Stimme im inneren Ohr. Doch mit der gleichnamigen Schnulze über ewige Liebesbande hat der Spielfilm der peruanisch-schweizerischen Regisseurin Klaudia Reynicke nur den Titel gemein. Er wartet durchgehend mit einsamen Figuren auf und schlägt alles andere als romantische Töne an.
Die längst erwachsene, an Agoraphobie leidende Protagonistin, Seconda (Barbara Giordano), ist aufgrund ihrer Angststörung an die wenigen Quadratmeter ihres Elternhauses gebunden, in dem von inniger Zuneigung nicht die Rede sein kann. Der Vater verschuldet sich mit dubiosen Geschäften und geht fremd. Die verbitterte Mutter verbringt ihre Tage mit Zigaretten und der Zubereitung von Minestrone.
In der Küche dieser Tessiner Familie, in der feindselige Worte und vorwurfsvolle Blicke ausgetauscht werden, steht zwischen angesammelten Nutzlosigkeiten und vollen Aschenbechern ein beleuchtetes Aquarium. Wie ein Sinnbild für die familiären Verhältnisse sticht es immer wieder aus dem abgedunkelten Bildhintergrund hervor. Seconda war ein zweiter Anlauf zum Kleinfamilienglück, der ordentlich fehlschlug: Sie kam nach dem Unfalltod einer älteren Schwester zur Welt und wuchs überbehütet zu einer unselbstständigen, von Phobien geplagten Frau heran.
Nun zollt sie mit ihrer Kleidung in stets aquamarinen Nuancen der Unterwasserwelt Tribut und fristet ein monotones Dasein, wie die Fische im Tank. In ihrem begrenzten Lebensraum geht sie auf und ab, knabbert hin und wieder an etwas Essbarem, blickt dann und wann aus dem Fenster auf eine Aussenwelt, die ihr nicht zugänglich ist. Und als die Mutter eines Tages am Küchentisch stirbt und der Vater Reissaus nimmt, trübt sich das Wasser des Aquariums im Gleichschritt mit der Verwahrlosung der Wohnung, in der die verlassene junge Frau krankhaft feststeckt.
Doch anders als die hilflosen Zierfische, die nach wenigen Tagen leblos im stinkenden Wasser treiben, ist Seconda mit einem ungetrübten Überlebensinstinkt ausgestattet. Er kommt ihr bei Selbstmordversuchen gerne in die Quere, zwingt sie in ihrer Hungersnot zum Fressnapf der Katze und schliesslich aus dem Haus.
Sozialrealistisches Drama
Zu Beginn wähnt man sich in «Love Me Tender» in einem sozialrealistischen Drama. In natürlichem Licht und mit gelegentlicher Unschärfe folgt die Handkamera von Diego Romero erst dem familialen Figurentrio, dann der einsamen Verrückten durch ihre häusliche Misere. Doch sporadisch eingesetzte Synthiepopklänge, symbolisch aufgeladene Gegenstände und Handlungen, die sich zu einer ganz eigenen Alltagsikonografie verdichten, und eine aus Aerobic-Elementen, Kampfbewegungen und Teenie-Attitüden bestehende Choreografie, die Seconda immer wieder aus dem Nichts vorführt, verweisen darauf, dass sich Reynicke noch ganz anderen, weniger naturalistischen Inszenierungsweisen annehmen wird.
Sie reichert ihre Erzählung mit subtilen Genrezitaten und offenkundigen Irrealismen an, die uns in die verdrehte Gefühlswelt der Protagonistin entführen. Ein Hauch Übernatürlichkeit weht schon durch den Film, als sich Seconda zum eigenen Schutz in einen türkisen Tauchanzug zwängt, wie eine unbeholfene Superheldin durch das Dorf stapft, in den Ästen eines Baums kauernd auf ihren Vater und dessen Affäre wartet und sie dann mit Eiern bewirft.
Im selben Anzug wird sie später im Stil einer Gaunerkomödie bewusstlose Männerkörper wegschaffen, die in hitchcockschen Duschszenen oder in slapstickartigen Verwechslungsspielen versehentlich zu Fall gebracht wurden. Und sie wird den Anzug gerade weit genug aufknöpfen, damit sie in einem märchenhaft beleuchteten Wald ihre plötzliche sexuelle Lust an einem überrumpelten, unfreiwilligen Komplizen ausleben kann, bevor sie in Zeitlupe vom belaubten Boden abhebt.
Feministisches Befreiungsmanifestat
«Love Me Tender» zeichnet ein Psychogramm, vor allem aber eine Befreiungsgeschichte, die durchaus als feines feministisches Manifest durchgeht. Nicht weil hier behaarte Frauenbeine selbstverständlich sind. Der sozial ausgegrenzten Seconda sind gesellschaftlich normierte Verhaltensweisen völlig fremd, und das verleiht ihr unerwartet Kraft. Männerfiguren, denen sie in ihrem Kampf gegen innere Dämonen mehrfach begegnet, sind ob der nicht konformen Art ihres weiblichen Gegenübers so von der Rolle, dass ihnen nichts anderes übrig bleibt, als ihre zwielichtigen Absichten zu begraben.
Die Anspielungen auf Heldengeschichten, Psychothriller, romantische Komödien und Märchen, die Reynicke in ihre Darstellung von Secondas Selbstermächtigung verwebt, wirken da wie feine Seitenhiebe gegen kulturelle Erzeugnisse, in denen das Schicksal von Frauen allzu häufig in Männerhänden liegt, ob in mörderischen oder heilbringenden. Die Anlehnung des Titels an die Liebesbekundungen des King of Rock’n’Roll ergibt in diesem ironischen Spiel Sinn.
Ein Pop-Drama nennt Klaudia Reynicke ihren zweiten Langspielfilm, der bald in die deutschschweizer Kinos kommt und der wie schon ihr Regiedebüt «Il Nido» von 2016 am Locarno Film Festival im Wettbewerb «Cineasti del Presente» Premiere feierte. Man kann in den zwei Werken gut und gerne eine inhaltliche Kontinuität ausmachen: Beide sind im Tessin angesiedelt und kreisen um eine Frau, die mit einer traumatischen Familiengeschichte kämpft. Doch sind es eher die Abweichungen, die «Love Me Tender» ausmachen. Reynicke tut sich gut daran, Figuren- und Handlungsreichtum auf ein Minimum zu reduzieren. Das widerspiegelt nicht nur Secondas isolierte Lebenswelt, sondern lässt Raum für eine gute Portion schwarzen Humors und für eine Filmsprache, so zart und doch kraftvoll, so zurückhaltend und doch eigenwillig wie die Protagonistin, von der sie erzählt.