Margrith Bigler-Eggenberger, erste Bundesrichterin der Schweiz und unermüdliche Kämpferin für Gleichstellung
Margrith Eggenberger studierte in Genf und Zürich Jurisprudenz. Ihre kriminalistische Dissertation basierte auf Praktika in den Strafanstalten St. Jakob und Saxerriet. Als Sozialistin wollte sie das wahre Arbeiterleben «erleben» und war in den Semesterferien als Hilfsarbeiterin in einer Telefonfabrik tätig – für einen Franken Stundenlohn.
1958 lernte sie den aus Mannheim stammenden, 1942 in die Schweiz geflüchteten, jüdischen Holocaust-Überlebenden und Pädagogen Kurt Bigler kennen. 1200 Seiten Verlobungsbriefe bis zur Hochzeit Ende 1959 zeugen von verträumter Verliebtheit, aber auch vom ersten Aushandeln der privaten und beruflichen Zukunft des Paares.
Auch wenn Kurt Bigler die berufliche Entwicklung seiner Frau befürwortete, sollte dies seiner Vorstellung von einem trauten und im Grunde sehr traditionellen Zuhause nicht zu viel abverlangen. Ein gewisser Zwiespalt zwischen der emanzipierten Kämpferin für die Gleichstellung der Frau und einer äusserst klassischen und rücksichtsvollen Rollenteilung im Privatleben prägte ihre fast 50 Ehejahre.
Keine Festanstellung an Gerichten
Der Berufseinstieg als Frau des Dorflehrers, die berufstätig sein wollte, war herausfordernd. Ihr Zürcher Doktorat wurde für das Anwaltsexamen in Bern nicht anerkannt, sodass sie dieses Ende 1961 nach einem unbezahlten Praktikum am Bezirksgericht Erlach («Ihr Mann verdient schliesslich genug!») in St. Gallen ablegte. Sie war dann als Anwältin und später als Gerichtsschreiberin in Biel und Solothurn tätig – allerdings gab es für eine verheiratete Frau bei den Gerichten aufgrund des Beamtinnen-Zölibats keine Festanstellungen.
Die Rückkehr in die Ostschweiz erfolgte 1966 aufgrund von ihrer Wahl ans neu geschaffene St. Galler Sozialversicherungsgericht und Kurt Biglers Berufung ans Lehrerseminar Rorschach. Das neue Amt, ihre Mitarbeit in der eidgenössischen AHV-/IV-Kommission und der Lehrauftrag an der HSG – als eine der ersten Dozentinnen – machten sie zu einer wichtigen Person im Sozialversicherungsrecht.
Kesseltreiben nach Wahl zur Bundesrichterin
Margrith wurde im Elternhaus früh politisiert, präsidierte die sozialistische Jugend, engagierte sich in der Partei und diversen Frauenorganisationen, hielt Vorträge. Sie war im Abstimmungskampf fürs Frauenstimmrecht 1959 und 1971 «praktisch Tag und Nacht auf der Piste» und schulte Frauengruppen, um als Stimmbürgerin die neuen Rechte auch wahrzunehmen. Nach Einführung des Frauenstimmrechts wurde sie 1972 in den Grossen Rat und im gleichen Jahr als Ersatzrichterin ans Bundesgericht gewählt.
Trotz der Bedenken und Ängste ihres Mannes, war die Kandidatur als ordentliche Bundesrichterin 1974 etwas, «das ich einfach wollte, das für mich richtig und wichtig war. Und dann ging das Kesseltreiben gegen mich los». Ihre Wahl wurde von lauten Nebengeräuschen begleitet. Man warf ihr vor, nur dank ihres Vaters, Ständerat Eggenberger, gewählt zu werden und hinter vorgehaltener Hand hiess es, man hieve sie vom Kochtopf direkt ins Bundesgericht. Das «St. Galler Tagblatt» schrieb am 3.12.1974, dass man ihr Intelligenz, Redegewandtheit und Hingabe zur Rechtsprechung zwar nicht abspreche, doch «das hohe Amt des Bundesrichters bedarf von der Aufgabe her grossen juristischen Wissens und langer Erfahrung. (…) Einen derartigen Schulsack an Wissen und Erfahrung kann die jetzige Kandidatin der sozialdemokratischen Fraktion wohl nicht aufweisen».
Auf der Richteretage gab es keine Damentoilette
Margrith Bigler-Eggenberger brauchte eine dicke Haut und einen langen Atem. Entgegen ihres Wunsches teilte man die einzige Frau selbstverständlich dem Familienrecht zu, sie kam in die II. Zivilabteilung. Auf der Richteretage des Bundesgerichts gab es damals keine Damentoilette, neue Büromöbel erhielt sie fünf Jahre lang nicht, da «mann» in der Verwaltung davon ausging, dass sie sowieso nicht lange bleiben würde. Es gab einige Richter, die sie herzlich aufnahmen, insgesamt war es aber eine kühle und abweisende Atmosphäre.
Ab 1980 erlebte sie eine goldene Dekade mit einer äusserst kollegialen Zusammensetzung und konstruktiver Zusammenarbeit, in der sie die Rechtsprechung prägen konnte. Es war ihr stets klar, dass sie wegen ihres Frauseins ans Bundesgericht gewählt worden war. Das wollte sie bewusst einbringen, da sie die Lebenswelt der Frauen und die Diskriminierungen kannte. Sie war eine Stehauffrau; unverdrossen, beharrlich, in keiner Weise verbittert, hielt sie 17 Jahre lang als einzige Bundesrichterin durch – «eine sei genug», hiess es bisweilen.
Zwischen Lausanne und Rorschach
Privat forderte ihr Amt ein ständiges Pendeln zwischen Lausanne und Rorschach mit wöchentlichen Trennungen von ihrem Mann, der als erster Ehemann einer Magistratin weder sein Pensum reduzieren noch in der Westschweiz eine angemessene Stellung finden konnte. In den letzten Jahren hatte sich die Zusammensetzung in der Abteilung verändert und es wehte wieder ein kälterer Wind. 1994 trat sie zurück und blieb noch bis 1996 Ersatzrichterin.
Ihr Unruhestand war geprägt von reger Vortrags- und Publikationstätigkeit, denn sie liebte ihre «Juristerei» bis zum Schluss, sie erhielt Ehrendoktorate der Universitäten St. Gallen und Fribourg. Es folgten schwere Krankheitsjahre ihres Mannes, in denen sie ihn bis zu seinem Tod 2007 betreute. Im Gedenken an ihn stiftete sie den Biglerpreis gegen Antisemitismus und Rassismus. Sie reiste viel, genoss das angeregte Zusammensein mit Verwandten und Freunden, strickte und las. «Die Welt wäre arm ohne Bücher», meinte sie noch vor zwei Wochen. Kürzlich ist sie im Kantonsspital St. Gallen gestorben.