Ein Loblied auf die Marktfrauen

Ein Loblied auf die Marktfrauen

Der St. Galler Stadtanzeiger, den es von 1882 bis 1930 gab, bietet eine unerschöpfliche-Quelle für Zeitungsschreibende, wie man beispielsweise in der Ausgabe vom 1. November 1885 lesen kann. Da wird ein Loblied auf die Marktfrauen von damals gesungen. Der Historiker Peter Müller ist bei der Auswertung von St. Galler Tageszeitungen aus dem Stickerei Boom auf dieses Loblied zu Ehren der St. Galler Marktfrauen gestossen.

«In Paris gehören die Marktweiber zu den  am meisten vorgeschrittenen  Französinnen. Bei der Revolution und Strassenkämpfen sind sie stets im Vordertreffen zu finden und an schlagfertiger Beredsamkeit stehen sie keinem Minister nach. Unsere Marktfrauen dürfen übrigens nicht den Pariserinnen in Vergleich gesetzt werden. Die meisten und die besten stammen aus dem Thurgau, was an und für sich schon eine Empfehlung ist.

Gewisser Schliff

Der Thurgau macht auf allen Gebieten sichtbare Fortschritte, also auch in der Qualität seiner Gremplerinnen. Früher waren diese eine ziemlich raue Damengesellschaft, jetzt haben sie bis zu einem gewissen Grade Manieren und Schliff angenommen. In  Bezug auf Genügsamkeit und musterhafte Regsamkeit stehen die Gemüslerinnen aus dem Egnach einzig da. Dafür kommen sie vorwärts in der Welt und richten sich je länger desto behaglicher ein.

Kohl oder Kabis

Zur Betreibung des Gemüsehandels braucht es mehr Kenntnisse, als mancher Professor meinen möchte. In den Schulen wird freilich allerlei Kohl und Kabis gelernt und die meisten Kinder können die Brennnessel von der Erdbeere unterscheiden, bevor sie ins Wirrwarr des ABCs hineingeführt werden. Die Brennnessel gehört überhaupt zu den populärsten Blumen und kann am leichtesten auswendig gelernt werden, dann kommen etwa noch Sauerampfer und Habermark (ein Wurzelgemüse, das heute kaum noch auf dem Markt ist) oder auch der Brunnenkressich in Betracht. Aber noch lange nicht alle kaum gescheidten Leute können Bohnen und Erbsen,  Zwiebeln, Knoblauch und Böllen voneinander unterscheiden. Eine ächte Gemüslerin aber kennt jeden Grashalm und sieht es allem grünen Zeug sofort an, ob es für bessere Herrschaft oder in ein Kosthaus für Vorarlberger Maurer passt. Unsere Hausfrauen verstehen übrigens in den meisten Fällen auch etwas von Schnittlauch. Sie sind im Stande, den ganzen Markt abzusuchen und alle Zainen zu durchstöbern, bis sie für 10 Rappen Salat kaufen. Da ist mit den Männern besser hantieren. Sie verlegen sich nicht auf’s Markten, sind mit dem ersten besten Stück Kohl zufrieden, selbst wenn es Alkohol wäre. Die Gemüslerinnen  machen sich dies nicht sehr gewissenhaft zu Nutzen. Sie sehen es den Kunden sofort an, ob sie etwas von dem Kram verstehen oder nicht und die Folge davon ist, dass die Männer meistens das Doppelte des gewöhnlichen Preises zahlen müssen. Es gehört nicht zu den angenehmen Erfahrungen, einen Kopf Blumenkohl einzukaufen und nachher von der Hausfrau als Mostkopf tituliert zu werden. Derlei Erlebnisse können den gesegneten Appetit verderben.

Rüebli und Bohnen

Manche Leute haben die Gewohnheit, die Waare, welche sie zu kaufen beabsichtigen, als möglichst schlecht und nichtsnutzig hinzustellen. Sie entdecken Fehler und Mängel, welche mit dem hohen Preis nicht harmonieren. Eine ächte Thurgauerin wird mit solchen Kunden etwa zwei Minuten lang Geduld haben und die Verleumdung ihrer Rüebli und Bohnen milde zurückweisen, dann aber die Zunge in Bereitschaft setzen, die Arme in die strammen Seiten stemmen und die Gründe anführen, welche Käufer zu schnellem Kauf oder eiliger Flucht veranlassen werden.

Sparsame Jungfern

Es gehört viel Ausdauer dazu, um dem Beruf einer Gremplerin obzuliegen. Im Sturm und Wetter, bei glühender Sonnenhitze und eisiger Kälte stundenlag zu warten, bis ein Schulbube mit zwei Rappen auf ein halbes Pfund Äpfel spekuliert, ist nicht jedermanns Liebhaberei. Zuweilen vergeht geraume Zeit, bis ein Kauflustiger sich naht. In solchen müssigen Stunden werden Äpfel und Birnen mit der Schürze abgerieben und appetitlicher hergerichtet, oder es wird mit dem Stricken  eines Strumpfes ein vielversprechender Anfang gemacht. Jüngere Gemüslerinnen halten Umschau nach der vorüberziehenden männlichen Abtheilung und machen sich ihre zivilstandsamtlichen Gedanken dazu. Wer eine dieser Frauen vor seinen Wagen spannt, wird wohl fahren, denn es sind sparsame, geweckte Jungfern, die jederzeit ihren Mann stellen. Manche  Gremplerinnen haben es zu verhältnismässigem Wohlstande gebracht, was ihnen als Lohn der Beweglichkeit und Thurgauerei gewiss herzlich zu gönnen ist.

Bild Stadtanzeiger St. Gallen

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