
Einen Abstimmungs- und Wahlzwang mit Steuerabzug entgelten?
Das St. Galler Kantonsparlament wird darüber entscheiden, ob die Teilnahme an Wahlen- und Abstimmungen künftig mit Steuerabzügen belohnt wird. Die Regierung ist sich nicht sicher, ob das etwas bringt.
In der Schweizer Politlandschaft gibt es eine schweigende Mehrheit. Die meisten Stimmberechtigten wählen weder rechts noch links – sie wählen überhaupt nicht. Das gilt in der Regel auch für St.Gallen: Hier betrug die Beteiligung an den eidgenössischen Wahlen im Herbst 41,9 Prozent. Der Kanton befindet sich damit schweizweit im hinteren Drittel, der nationale Durchschnitt liegt bei 45,1 Prozent. Manche Sachvorlagen interessieren das St.Galler Stimmvolk noch weit weniger. So gingen im Juni nur 26 Prozent an die Urne, um über das Klanghaus Toggenburg und den neuen HSG-Campus abzustimmen.
«Enttäuschend» findet CVP-Kantonsrat Sandro Hess solche Zahlen. Er verlangt, dass sich der Staat aktiv um eine Erhöhung der Stimm- und Wahlbeteiligung bemüht. Zwar könne man die magere Teilnahme an den Urnengängen «als Zeichen einer gewissen Zufriedenheit» deuten, schreibt Hess in einer Motion zum Thema. Trotzdem sei es erstrebenswert, die Beteiligung zu erhöhen – die Volksentscheide würden damit repräsentativer und besser legitimiert. Hess schlägt vor: Wer an einer Abstimmung oder Wahl teilnimmt, soll mit einem Steuerabzug belohnt werden.
Ein Widerspruch zum Bundesrecht
Die St.Galler Regierung sieht allerdings keine Möglichkeit, fleissige Wähler via Steuern zu begünstigen. Die meisten Steuerabzüge definiere das Bundesgesetz. Nur Sozialabzüge lägen in der Kompetenz der Kantone. Diese Sozialabzüge wiederum orientieren sich an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen. «Die Teilnahme an Abstimmungen und Wahlen tangiert die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit überhaupt nicht», schreibt die Regierung in ihrer Antwort auf die Motion. Es sei daher nicht zulässig, einen Sozialabzug als Belohnung für die Teilnahme an Abstimmungen und Wahlen vorzusehen. Die Regierung beantragt die Ablehnung der Motion, das Parlament hat noch nicht entschieden.
Hess ist nicht der erste Politiker, der einen solchen Steuerabzug ins Spiel bringt. Eine nationale Volksinitiative mit demselben Ziel scheiterte 2013 an der Unterschriftensammlung. Sie sah Abzüge in unterschiedlicher Höhe vor – 25 Franken bei kommunalen, 50 Franken bei kantonalen und 100 Franken bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen.
Der Sonderfall Schaffhausen
Das umgekehrte Modell wendet der Kanton Schaffhausen an: Stimmbürgerinnen und Stimmbürger unter 65 Jahren sind hier per Gesetz zum Wählen und Abstimmen verpflichtet. Wer nicht mitmacht und sich nicht bei den Behörden abmeldet, wird mit sechs Franken gebüsst. Im Minimum müssen die Bürger ihren Stimmausweis innert drei Tagen nach dem Urnengang retourgeben, um der Strafe zu entgehen. Der Sechs-Franken-Betrag wirkt symbolisch – jahrzehntelang war es sogar nur ein Franken. Tatsache ist jedoch, dass Schaffhausen im nationalen Vergleich fast immer die höchste Stimmbeteiligung ausweist. Bei den eidgenössischen Wahlen 2019 waren es fast 60 Prozent.
Früher kannten diverse Kantone den Abstimmungszwang. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde er in der Praxis nach und nach abgeschafft. Der Kanton St.Gallen kippte den entsprechenden Artikel im Jahr 2001 aus der Kantonsverfassung, angewendet hatte man ihn schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Politische Diskussionen über eine Wiedereinführung flammen in den Kantonsparlamenten jedoch immer wieder auf – etwa vor drei Jahren in Zürich, im vergangenen Jahr in Basel-Landschaft.
SP und SVP profitierten wohl am meisten
Wie stark die Höhe der Stimmbeteiligung die Wahl- und Abstimmungsresultate tatsächlich beeinflusst, ist umstritten. So ist in Schaffhausen die Anzahl der Leerstimmen stets deutlich höher als in anderen Kantonen. Eine Studie mit Beteiligung der Universität St.Gallen kommt zum Schluss, dass ein Stimmzwang vor allem bildungsferne, sozial schwächere Gesellschaftsschichten zusätzlich mobilisieren würde. Davon könnten am ehesten SP und SVP profitieren.
Die Beteiligung an den St.Galler Kantonsratswahlen hat in den vergangenen 16 Jahren auch ohne Zwang oder staatliche Anreize wieder zugenommen. Ob der Trend anhält, zeigt sich am 8.März.