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Es liegt eine tiefe Wahrheit im Nonsens – Gespräch mit der Opernregisseurin Tatjana Gürbaca

Es liegt eine tiefe Wahrheit im Nonsens – Gespräch mit der Opernregisseurin Tatjana Gürbaca

Wie bringt man eine Oper auf die Bühne, in der der Tod ein Aufschneider ist, der Hofastronom ein Masochist, und ein Säufer die Welt rettet? Ein Gespräch mit Tatjana Gürbaca über ihre Lesart von Ligetis «Le Grand Macabre»

Tatjana, wovon handelt György Ligetis Oper Le Grand Macabre?
Der Tod erscheint in Breughelland und behauptet, um Mitternacht die Welt zu vernichten. Aber im entscheidenden Moment verschläft er den Weltuntergang, weil er zu besoffen ist. Das ist die Handlung in einem Satz. Aber ich finde, die Oper greift viel weiter aus: Es ist ein Stück über das Menschsein an sich, über die Schwächen der Menschen und ihre Triebe, über ihre Ängste, Hoffnungen, Lebensstrategien. Gerade weil der Tod auftritt, ist Le Grand Macabre nämlich auch eine grosse Feier des Lebens. Die Tatsache, dass unser Dasein endlich ist, macht ja das Leben erst lebenswert. Was wäre das für ein Horror, wenn wir ewig leben müssten! Alles würde sich in endlose Qual verwandeln. Ich habe vor einigen Jahren bei einer Biennale in Venedig die wunderbare Video­Installation des chinesischen Künstlers Yang Zhenzhong mit dem Titel I will die gesehen. Darin sah man Menschen auf der Strasse, im Alltag, umtost vom Leben, die in die Kamera gucken und sagen: «Ich werde sterben». Ein Satz, der auf jeden von uns zutrifft. Und ich mochte an der Installation, dass alle, die diesen Satz sagten, gelächelt oder sogar richtig gelacht haben. Es ist eben eine grosse Befreiung, zu wissen, dass es ein Ende gibt. Umso mehr ist man aufgefordert, das, was davor liegt, gut zu verbringen und mit Sinn zu füllen.

Ligeti hat als Form für seine Oper die Groteske gewählt. Der Tod ist bei ihm eine lächerliche Figur. Was heisst das in Bezug auf den Ernst des Themas?
Es liegt eine tiefe Wahrheit im Nonsens. Das ist ja das Tolle, dass man schwere Themen auch ganz leicht erzählen kann. Indem man Witze über die letzten Dinge macht, kommt man ihnen näher, als wenn man sie zu ernst nimmt. Ligeti schafft es in der Groteske, einen liebevollen Blick auf seine Figuren zu werfen. Sie sind alle wie verlorene Kinder. Sie quälen sich, reiben sich auf in ihren Projekten, scheitern, versuchen es erneut. Alle möchten etwas erleben, sich selbst spüren, eine Bedeutung im Leben erlangen. Aber natürlich handelt Le Grand Macabre auch von einer fundamentalen Sinnkrise und den Fragen, die sich an sie knüpfen. Ich habe gerade in Essen Webers Freischütz inszeniert. Das stellt Max die Frage: «Lebt kein Gott?» Bei Ligeti singen die Figuren: «Das All ist menschenleer». Da sind wir bei Nietzsche und seinem berühmten Satz, dass Gott tot ist, und Samuel Beckett, der in seinem Stück Endspiel eine Figur über Gott sagen lässt: «Der Lump, er existiert nicht.» Gibt es etwas, das der Welt übergeordnet ist und unserem Dasein einen Sinn verleiht? Oder sind wir vielmehr dazu aufgefordert, den Sinn selber zu schaffen? Darum geht es in dieser Oper, in der ich auch Sartre entdecke – die Geschlossene Gesellschaft. Das Personal in Le Grand Macabre repräsentiert eine komplette Welt auf der Bühne, ähnlich wie bei Verdi. Wir haben einen König, zwei Minister, den Hofastrologen und seine Frau; wir haben die jungen Liebenden und Piet vom Fass, der mir wie eine Art Papageno­-Figur vorkommt – und wir haben mit Venus und Nekrotzar zwei Götter. Mit wenigen Strichen ist hier ein vollständiges Welttheater skizziert. All diese Figuren stehen für sehr unterschiedliche gesellschaftliche Schichten, hocken aufeinander und bilden einen abgeschlossenen Kosmos. Die Hölle sind immer die anderen.

Die Macabre-Figuren sind comichaft angelegt. Heisst das, dass man sie auch als solche auf die Bühne bringen muss, mit all ihren Übertreibungen und Simplifizierungen?
Nein. Das wollten wir gerade nicht machen. Natürlich ist es reizvoll, dass die Charaktere so antipsychologisch gedacht sind. Das öffnet dem Theater reiche Möglichkeiten und ist für jedes Inszenierungsteam ein grosser Spass. Trotzdem sind die Figuren vielschichtiger, als man zunächst denkt. Nehmen wir etwa den Hofastronomen Astradamors und seine Frau Mescalina. Auf den ersten Blick scheint das Paar eine Sadomaso­-Beziehung zu leben, die mit viel Komik und ziemlich drastisch ausgestellt wird. Aber wenn man genauer hinschaut, entdeckt man zwischen den beiden grosse Nähe und Zärtlichkeit und unerfüllte Sehnsüchte. Sie scheitern an den hohen Ansprüchen, die sie aneinander stellen und werden durch den Alltag aufgerieben. Das macht sie liebenswert und rührend. An dem Paar zeigt sich auch das Leib­-Seele-Problem des Menschen. Wir sind gesegnet mit unserem Körper, aber auch belastet durch ihn. Er existiert unabhängig von unserem Denken. Er muss genährt werden, produziert Krankheiten und seltsame Begierden, macht absurde Dinge mit uns, mit denen es nicht einfach ist, klarzukommen.

Du suchst das Menschliche in den Figuren, aber die Musik hält gar keine Introspektion für sie bereit. Sie kennt nicht die Form von Einfühlungsdramatik, wie wir sie in den Opern des 19. Jahrhunderts erleben.
Doch. Sie gibt uns schon tiefe Einblicke. Ligetis Musik erzählt ganz viel auf verschiedenen Ebenen. Astradmors und Mescalina zählen beispielsweise in einer kurzen Sequenz alle Wochentage auf, vom müden Montag bis zum süssen Sonntag. Da kann sich jeder wiederfin­den: Wie wir endlos mit den Banalitäten des Alltags zu kämpfen haben, Tag für Tag an den Rand der Erschöpfung kommen und uns immer wieder auf­raffen, auch wenn die Belohnungen, die wir dafür kriegen, viel zu klein sind. Mescalina etwa sucht in der Liebe, in der Leidenschaft und der Sexualität ihre Erfüllung – der Mann will seine Ruhe haben.

Es gibt eine drastische Sexszene zwischen Mescalina und Nekrotzar, zu der Ligeti im Orchester eine graziöse «Bourrée perpetuelle» im Stil von Jean-Philippe Rameau geschrieben hat. Ist das ein Beispiel für die überraschenden Kommentare, die die Musik immer wieder bereit hält?
Unbedingt! Was Ligeti schreibt, ist mit jedem Ton grossartige zeitlose Musik. Obwohl ich die Oper ja schon einmal gemacht habe und schon sehr lange mit mir herumschleppe, muss ich immer noch laut lachen, wenn ich wieder vor den Noten sitze. Es ist ein ewiger Kitzel, der in dieser Musik steckt. Die Bourrée, die du erwähnst, gibt der Szene etwas surreal­-Rituelles, wie die komplizierten, verschachtelten Rituale der erotischen Annäherung, die wir ja alle kennen. Oft erinnert mich die Mechanik, die Ligetis Musik innewohnt, an eine Skulptur von Tinguely, die aus rostigem Material zusammenmontiert ist, aber faszinierend und unermüdlich vor sich hin rattert. Eine klapprige, fragil­komplexe Weltmaschinerie.

Ligetis Stück etabliert eine deftige, mitunter sogar unflätige Sprache. Darüber wurde seit der Uraufführung immer viel diskutiert. Ligeti selbst hat Veränderungen vorgenommen und die Fäkalsprache abgemildert. Welche Bedeutung hat sie für das Stück?
Sie verstellt ein bisschen den Blick auf die wirklich spannenden Dinge. Bei meiner ersten Begegnung mit dem Stück hat mich das zunächst auch abge­schreckt. Aber je genauer man hinhört, desto mehr vernimmt man hinter der Derbheit auch eine grosse Unschuld. Das hat alles etwas sehr Kindliches und unverstellt Körperliches, kommt ganz erdverbunden und handfest daher.

Du hast im Konzeptionsgespräch zu Probenbeginn Gemälde von Jan Pieter Breughel gezeigt. Welche Erkenntnisse hast du ihnen für deine Inszenierung entnommen?
Die Bilder erzählen unglaublich viel über die Welt, in der Ligetis Oper angesiedelt ist. Ein Bild etwa zeigt eine Szene, in der alle Menschen irgend­welchen absurden Beschäftigungen nachgehen. Sie schaukeln auf Fässern herum, drehen sich im Kreis usw. Die Kunsthistoriker streiten darüber, ob da Kinder oder Erwachsene zu sehen sind. Es ist, wie Johan Huizinga schreibt: Der Mensch übt sein Leben im Spiel. Auch in Macabre hat man oft das Gefühl, dass die Figuren ihr Leben spielen. Fürst Gogo spielt das König­sein, die Minister ihr Ministersein. Und genau das malt Breughel: Kinder mit erwachsenen Gesichtern verlieren sich im Spiel und werden womöglich nie er­wachsen, weil sie immer im Spiel gefangen sind. Dann gibt es natürlich den berühmten Turmbau zu Babel. Breughel zeigt ihn als ein grössenwahnsinniges Projekt, das nie vollendet werden wird und zum Scheitern verurteilt ist. Die Turmbaustelle hat überhaupt nichts Erhabenes, ist eher eine schäbige Ruine und trotzdem wohnt ihr etwas Anrührendes inne. Man spürt das urmenschliche Bedürfnis Grosses zu erschaffen, Bedeutendes darzustellen, das Scheitern inbegriffen. Der Mensch will Gott gleichen, bleibt aber ein Mängelwesen. Ein anderes Bild von Breughel, Der Triumph des Todes, lässt sich unmittelbar auf die Oper beziehen. Breughel entwirft eine Szenerie, in der das Entscheidende weggelassen ist – die höheren Instanzen, die Hölle und das Paradies. Was für die Zeit, in der das Gemälde entstanden ist, ganz ungewöhnlich ist. Gott fehlt. Es gibt nur das irdische Dasein. So ist es auch in der Oper. Nekrotzar ist auch nur ein Mensch, der sich hilflos abstrampelt. Le Grand Macabrekommt mir manchmal vor wie das Warten auf Godot der Oper.

Nur witziger.
Also, ich finde Beckett auch sehr witzig. Ich weiss nicht, wie oft ich dieses Stück schon gesehen und gelesen habe – es ist mir jedes Mal wieder eine grosse Freude und Ermutigung. Es gibt noch ein weiteres Bild von Breughel, das ich sehr inspirierend finde – Der Tod des Ikarus. Darauf sieht man bildfüllend im Vordergrund einen Bauer mit seinem Pflug, der seiner Arbeit nachgeht, und nur winzig klein im Hintergrund die Beinchen des ins Meer stürzenden Ikarus.

Die Menschen sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie die grossen Ereignisse gar nicht wahrnehmen?
Genau. Im Kosmos der Oper sind Venus und Nekrotzar die letzten beiden verbliebenen Götter – die Liebe und der Tod. Beide stehen für eine Grenzüberschreitung. Es ist furchtbar, wenn sie in ihrer Göttlichkeit gar nicht mehr erkannt werden. Es gibt einen wunder baren Text von Ernst Bloch und Adorno über Utopien. Der Mensch habe es inzwischen geschafft, sich fast jede Utopie zu erfüllen. Aber jede Utopie, die Realität wurde, sei in ihrer Erfüllung mit einer Banalisierung einher gegangen. Wir haben immer, wie Ikarus, vom Fliegen geträumt. Jetzt gibt es Flugzeuge, und das Fliegen erweist sich als eine einzige Zumutung. Man steht stundenlang Schlange, sitzt eingeklemmt auf seinem Platz und eine Stewardess serviert Mineralwasser im Plastikbecher. Ein Menschheitstraum ist das nicht mehr. Bloch und Adorno sagen, die letzte verbliebene Utopie des Menschen sei die Abschaffung des Todes. Auch daran, das Leben zu verlängern und möglichst ins Endlose auszudehnen, arbeiten wir. Dabei ist es eine furchtbare Vorstellung, diesen eigenen Körper ewig mit sich herumschleppen zu müssen.

Du sagtest, Nekrotzar sei auch nur ein armes Würstchen. Ligeti hat ihm aber einen grandiosen Einzug im dritten Bild komponiert, der sich zu grossdröhnender Bedrohlichkeit aufbaut. Ist die für dich von vornherein nur hohl?
Nekrotzars Einzug hat sehr wohl ein Moment von grosser Bedrohlichkeit, aber es ist nicht nur Bedrohlichkeit. Es ist auch der Schauder, dass sich da endlich etwas Grosses ankündigt. Die Menschheit war über alle Zeiten hinweg immer auch untergangsselig. Es gibt eine Lust, einmal bei der Erfüllung des Einzigartigen dabei zu sein: In der Katastrophe wird sich Gott endlich zeigen! Da schwingen Grauen und Faszination zugleich mit. Das ist ein Menschheitsthema, das in jedem Jahrhundert wiederkehrt. Während der Arbeit am Freischütz kamen wir darauf, dass 1618, als der Dreissigjährige Krieg begann, ein grosser Komet am Himmel stand und alle glaubten, dass jetzt der Weltuntergang da sei.

Und diese Bedrohlichkeit lässt Ligeti in der Oper im folgenden Zwischenspiel regelrecht implodieren.
Ja. Es ist immer eine Riesen-­Enttäuschung, wenn die Katastrophe nicht kommt. Für die Breughelländer ist es nämlich die Bestätigung dafür, dass das All tatsächlich menschenleer ist. Man hat die Grenze gestreift, vielleicht sogar eine Sekunde dahinter geschaut und festgestellt – dahinter ist gar nichts! Es gibt keinen Gott.

Wie verhält sich der fröhliche Schluss-Gesang dazu?
Ich höre da nicht nur Fröhlichkeit, sondern auch Resignation im Sinne von: Dann machen wir halt weiter wie immer. Ich fühle mich da an die Schlüsse in den Mozartopern erinnert, etwa in Don Giovanni. Die Menschen spüren den Verlust, wenn der Held zur Hölle gefahren ist. Die Aufklärung hat ein­gesetzt, aber ob das wirklich das ist, was die Menschen glücklich macht, steht auf einem anderen Blatt.

Hast du eigentlich selbst Angst vor dem Weltuntergang?
Nee. Ich habe auch keine Angst vorm Tod. Als ich sechs Jahre alt war, habe ich mal zu meiner Mutter gesagt: Mama, wäre das nicht schön zu sterben? Sie hat einen Riesenschreck gekriegt.

Und was stand hinter diesem Wunsch?
Ich habe als Kind mal vom Tod geträumt, der kam mich besuchen in Form eines Skeletts. Das war ein schöner Traum. Der Tod hat mich umarmt, und dann haben wir einen Wettbewerb ge­macht, wer den Mund weiter aufreissen kann. Nein, der Tod hat mich noch nie geschreckt. Das Leben ist wunderbar, es macht ganz viel Spass, aber wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Wissen wir, ob der späte Tod wirklich besser ist als ein früher?


Das Gespräch führte Claus Spahn.
Foto von Martina Pipprich.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 65, Januar 2019.

Opernhaus Zürich

Lesen Sie auch den Artikel “Frauenfiguren in vielerlei Facetten”, der im St. Galler Tagblatt erschienen ist!

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