Gedanken zum Siegerbeitrag und rund um den Eurovision Song Contest 2018 und was dieser sollte
Unverständliches Gekreische zu Beginn des Songs, so dass es fast schmerzt in den Ohren. Der ESC-Siegersong ist wirklich gewöhnungsbedürftig – genauso wie Netta Barzilai, die Israelische Interpretin des Songs. Und wofür stand die diesjährige ESC-Austragung denn sonst noch? Ist der Wettbewerb Sinn oder Unsinn?
Es war die Nacht der Gefühle, die Nacht der Gegensätze und der grossen Texte. Wie sonst hätte eine Netta den Eurovisions Song Contest 2018 gewinnen können? So kamen denn auch schon kurz nach der Austragung, die grossenteils negativen und vielseits auch sexistischen und ehrverletzenden Reaktionen auf dem Fuss. Ich gebe zu, dass ich mit dem Klang des Songs und mit der Sängerin ebenfalls meine Mühe habe und dass ich mich noch immer frage, wie jemand dazu kommen konnte, diesen Beitrag in ein Rennen zu schicken, das Millionen Menschen in der ganzen Welt sehen. War es vielleicht nur ein Pokerspiel?
Ausgeflippt ist Netta auf jeden Fall, sie ist bunt, schrill – und sie sang am Samstagabend mit geballter Energie gegen Männer, die Frauen unterdrücken oder ausnützen wollen. «I’m not your toy!», feuerte sie in den Raum. Die 25-Jährige konnte es selbst kaum glauben, dass sie das Rennen gemacht und vor allem auch, dass die feurige Glitzer-Katze mit dem Dance-Popsong «Fuego» das Nachsehen hatte. Es war bis zur allerletzten Minute ein Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden Interpretinnen, doch Netta stand am Ende als Siegerin da. Die Buchmacher hatten es übrigens genauso prognostiziert.
«Der Sieg bedeutet, dass wir die Unterschiede zwischen uns akzeptieren und Diversität zelebrieren», erklärte die grelle Netta, deren Song wunderbar in die seit Monaten andauernde #MeToo-Debatte passt und damit wohl auch zur richtigen Zeit am richtigen Platz gesungen wurde. Europa spielt ja schliesslich eine gewichtige Rolle in der aktuellen Politik, rund um den US-amerikanischen Flop mit einem sexistischen, menschenverachtenden und narzisstischen Präsidenten. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu rief Netta übrigens schon kurz nach Ende der Show an, gratulierte ihr und sagte, sie sei «Israels beste Botschafterin». In einem Jahr werden dank ihr Israel und Jerusalem als Austragungsort auf positive Weise im weltweiten Zentrum stehen – besser als aktuell rund um den US-Präsidenten, der gerade mit seiner Verlegung der Botschaft vorkriegsähnliche Reaktionen erzeugt.
Nebst Netta standen am Samstagabend übrigens noch weitere Frauen im Zentrum des Geschehens: die Slowenin mit der nicht alltäglichen Frisur etwa. Lea Sirk tanzte mit rosa-schwarz gefärbter Mähne auf der Bühne, welche jemandem die Welt zu Füssen legen kann. Denken wir an Céline Dion, die für die Schweiz siegte und ein Weltstar wurde. Oder denken wir an junge und rotzfreche Lena aus Deutschland (Siegerin 2010), an die bezaubernden Jamala aus der Ukraine (Siegerin 2016) und Emmelie de Forest aus Dänemark (Siegerin 2013) oder die Drag-Queen und Mann/Frau Conchita Wurst (Sieger/in 2014). Die Frauen prägen den ESC sowieso in diesem Jahrzehnt, haben doch in den letzten acht Jahren sechs Mal Frauen gesiegt.
Doch zurück zur diesjährigen Austragung: Einige Zuschauende, die in Anlehnung an den Look der portugisischen Interpretin Cláudia Pascoal pinkfarbene Perücken trugen, zogen sich diese am Schluss bedrückt vom Kopf, denn die Portugiesin landete mit ihrem Beitrag im eigenen Land, auf dem letzten Platz. Vergessen wir nicht die Operndiva aus Estland mit ihrem XXL-Ballkleid samt Projektionsfläche, die ein gar märchenhaftes Schauspiel bot – und die Britin SuRie verlor auch die Fassung nicht, als ihr ein Spinner das Mikro aus der Hand riss und unverständliche Nazi-Parolen ins Publikum schrie. Grossbritannien war jedenfalls mit Recht äusserst stolz auf ihre starke Frau, die auf das Angebot, ihren Song nochmals zu singen, nicht eingehen wollte und sich vielleicht darum mit dem drittletzten Platz zufrieden geben musste.
Eines war in diesem Jahr auffallend und schön. Lissabon liess ein friedliches Fest mit verschiedensten Musikinterpretationen und allen nur möglichen Regenbogenfarben steigen. Es war eine Mega-Party in einer wundervollen europäischen Stadt. Fans aus der ganzen Welt feuerten die Interpreten und Interpretinnen an – egal unter welcher Flagge diese teilnahmen. Wenn Israelis mit Deutschen zusammen feiern, wenn Iren den deutschen Beitrag als ihren liebsten betiteln, wenn eine Türkin den serbischen Beitrag anfeuert, als wäre dieser aus ihrem eigenen Land, das aber gar nicht dabei war, und wenn Australien sich nahtlos und mit einer wundervollen Interpretin einreiht in die «Europäische Union»… Ja, dann wurde der Sinn des ESC mehr als nur demonstriert und es muss nicht weiter diskutiert werden, ob ein Land wie die Schweiz, die wiederum frühzeitig ausschied, weiterhin daran teilnehmen soll. ESC bedeutet auch Frieden im grossen Stil. Wenn noch während des Wettbewerbs eine neuen Messerattacke in Paris die Arena erreicht und die Italiener Ermal Meta und Fabrizio Moro gegen Terror und Gewalt singen, dann bedeutet das «Non mi avete fatto niente», ihr konntet mir nichts antun, denn der Frieden, die Freude und die Liebe bleiben Sieger.
Bild: Netta Barzilai