Keine Chancengleichheit im Schweizer Bildungssystem
Von Chancengleichheit im Bildungssystem kann weiterhin keine Rede sein. Der Schweizer Wissenschaftsrat zeichnet ein wenig erfreuliches Bild und fordert die Politik zu Massnahmen auf. «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.» Das alte Sprichwort gilt längst nicht mehr; die heutige Berufswelt verlangt lebenslanges Lernen.
Die Schweiz steht bei der Weiterbildung denn auch weltweit an der Spitze. Nachholbedarf hat sie indes darin, allen gleiche Startchancen im Bildungssystem zu bieten. Eine neue Publikation des Schweizerischen Wissenschaftsrats (SWR) zeigt mit aller Deutlichkeit auf, dass hier noch immer «ein unhaltbarer Zustand» herrscht – zum Schaden von Jugendlichen, die aus sozial benachteiligten Schichten stammen oder einen Migrationshintergrund haben, zum Schaden aber auch für die Volkswirtschaft. Weiterhin gilt in der Schweiz: Kommt Hänschen aus dem falschen Milieu, kann er lernen, was er will – und kommt doch kaum voran.
Politik nimmt das Problem zu wenig wahr
Der 15-köpfige Wissenschaftsrat berät den Bundesrat und sieht es unter anderem als seine Aufgabe an, etablierte Strukturen zu hinterfragen. Präsidiert wird er derzeit vom ETH-Professor Gerd Folkers. Zum zweiten Mal innert kurzer Zeit widmet er sich der «sozialen Selektivität» des Schweizer Bildungssystems: dessen nach wie vor mangelhafter Chancengerechtigkeit. Als Grund für die erneute Publikation nennt der SWR den dringenden Handlungsbedarf in diesem Bereich. Offensichtlich hat sich die auch im internationalen Vergleich ungünstige Situation im Lauf der letzten Jahre nicht verbessert.
Die Schweiz könne es sich aber schlicht nicht leisten, dem Thema interesselos gegenüberzustehen, schreibt der SWR. Denn als Standort für Forschung und Innovation hat das Land einen hohen Bedarf an qualifizierten Mitarbeitenden und Führungskräften. Statt diese im Ausland rekrutieren zu müssen, solle das Potenzial im Inland besser ausgeschöpft werden. Der Wissenschaftsrat zeigt sich besorgt, «dass trotz klarer Datenlage die Problematik der sozialen Selektivität auf der politischen Ebene nach wie vor nicht in angemessenem Umfang wahrgenommen wird».
Empfehlungen an Bund und Kantone
Eine Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Geschlecht und sozialer Stellung verstosse zudem gegen die Grundsätze der Bundesverfassung. Auch deshalb ist der Rat der Auffassung, «dass die Entscheidung über die Wahl des Bildungsweges bei den Individuen gemäss ihrer Leistungsfähigkeit liegen muss und nicht durch Strukturen des Bildungssystems vorbestimmt werden darf».
Wie dies verbessert werden soll, erläutert der SWR in einer Reihe von Empfehlungen. Dabei zielt er nicht auf eine verstärkte Akademisierung der Bildungslandschaft, sondern auf eine gerechte Chancenverteilung bei den Übertritten von Schulstufe zu Schulstufe. Die Vorschläge richten sich je nach Verantwortlichkeit an den Bund und an die Kantone, die im Übrigen, wie er anfügt, durchaus intensiver zusammenarbeiten könnten.
An die Adresse des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (BFI) gehen etwa die Empfehlungen, die frühkindliche Förderung strategisch zu unterstützen und explizit in die BFI-Botschaft 2021–2024 aufzunehmen sowie privaten Initiativen zur Förderung der Chancengerechtigkeit finanziell und organisatorisch zur Seite zu stehen. Von den Kantonen wünscht sich der Wissenschaftsrat eine gezielte Sprachförderung sozial benachteiligter Kinder, eine Sensibilisierung der Lehrkräfte für das Thema der sozialen Selektivität und eine Überprüfung der Schulübergänge. Eine Selektion zwischen verschiedenen Leistungsstufen dürfe nicht zu früh, sondern erst zu Beginn der Sekundarschule erfolgen. Denn eine frühere Selektion habe sich für die Chancengleichheit als kontraproduktiv erwiesen.
Vergeudung von «Humankapital»
Als Grundlage für seine Einschätzungen und Vorschläge dient dem Wissenschaftsrat eine Studie, die er bei Rolf Becker, dem Direktor der Abteilung Bildungssoziologie der Uni Bern, sowie bei Jürg Schoch, dem Leiter des Instituts Unterstrass an der Pädagogischen Hochschule Zürich, in Auftrag gegeben hat. Die Autoren kommen mit Blick auf weitere Forschungsarbeiten zum Schluss, dass das Schweizer Bildungssystem ungerecht und in der Folge ineffizient sei. Kinder von Akademikern besuchten doppelt so oft ein Gymnasium wie Kinder von Eltern mit mittlerem und niedrigem Bildungsniveau. Bei einem Universitätsstudium seien die Chancen Ersterer gar fünfmal höher. Zudem lasse sich belegen, dass soziale Unterschiede bereits in der frühen Kindheit Auswirkungen auf die Bildungschancen hätten und die Unterschiede danach von Bildungsstufe zu Bildungsstufe grösser würden. Schon bis zum Ende der Primarschulzeit gebe es eine «sich öffnende Leistungskluft».
Die Autoren stellen fest: «Wenn das Schweizer Bildungssystem nicht in der Lage ist, das nötige akademische Humankapital selbst zu erzeugen, ergibt sich die Frage, warum es entsprechende Talente nicht in ausreichender Zahl zu einer tertiären Berufsausbildung und akademischen Ausbildung bringt und inwiefern entsprechende Talente bei den Einheimischen und Zugewanderten vergeudet werden, während zur Kompensation gleichzeitig hochqualifiziertes Humankapital aus dem Ausland importiert werden muss.» Der Verzicht von ökonomisch armen Talentierten auf ein Studium komme die Gesamtgesellschaft teurer zu stehen als eine Übernahme von deren Studienkosten durch die Allgemeinheit.
Rolf Becker und Jürg Schoch sprechen insgesamt von einer kurzsichtigen Schweizer Bildungspolitik, «die sich vornehmlich auf den Berufsbildungsbereich und die Einsparung von Kosten bei der Akademikerausbildung konzentriert». Nötig sei stattdessen eine «mutige Modernisierung» des Bildungssystems. Wie diese erfolgen soll? Es liest sich wie ein Vorsatz zum neuen Jahr: «mit Mut und Augenmass zugleich».