
Mia Hesse-Bernoulli: totgeschwiegen und wiedererweckt
Die beiden Organisationen Interessengemeinschaft Frau und Museum und Genossenschaft DenkBar St.Gallen haben Ende Juli eine Bildungsreise an den Untersee angeboten, ein alljährliches Unternehmen und ein gelungenes Beispiel einer Kooperation, die einem ähnlich interessierten Publikum ein gut fundiertes, nicht alltägliches Programm anbieten und die Vorbereitungsarbeiten damit doppelt nutzen kann.
Barbla Jäger
Das Hermann-Hesse-Haus, ein “living museum”
In Gaienhofen, auf der Halbinsel Höri, haben Hermann Hesse und seine erste Frau Mia Bernoulli – die erste ausgebildete Fotografin in Europa – ein damals herrschaftliches Haus gebaut und ihre 3 Kinder einige Jahre lang grossgezogen. Genauer: Hesse interessierte sich nicht für seine Kinder, lebte ein ausschweifendes Leben auf Kosten seiner Frau und bereiste die Welt. Seine Frau blieb zurück, verlor sich an den häuslichen Alltag ohne ihren geliebten Beruf und ohne ihren Mann. Was sie war, durfte sie nicht sein. Dies ging ganze fünf Jahre, dann zerbrach die Ehe und mit ihr die Seele Mias. Auf der Reise weg von ihrem Bodensee überwältigte sie ihr Leid, sie warf die familären Koffer aus dem Eisenbahnfenster und andere danebenliegende gleich mit. Grosser Aufruhr, Nothalt, Polizei, und unter der Diagnose von Schizophrenie wurde sie in die Psychiatrie eingeliefert. Seitdem schwiegen Familie und Umfeld sie tot. Der Skandal diente Hesse als lupenreiner Scheidungsvorwand. Mia hat sich übrigens erholt – die Diagnose war ja auch nur hilfreich und entbehrte der medizinischen Grundlage. Nur, von nun an lebte Hesses erste hochintelligente Frau unter dem Schleier der Tabuisierung, sie war aus dem Rahmen der Konventionen und vorgegebenen Rollen gefallen. Dieser Schleier liess sich bis vor kurzem nicht heben.
Begegnung mit einer “feministischen Archäologin”
Und doch ist Mia Hesse-Bernoulli heute wieder “lebendig”. Sie gilt als Beispiel Tausender von Frauen, die buchstäblich an ihrem Leben in unterschiedlicher Weise “irre”geworden sind. Einigen gelingen Umorientierung und Neubeginn, andere bleiben gebrochen. Die Besitzerin des Hesse-Hauses, Frau Eva Eberwein, hat Mia Hesse in hartnäckig-akurater geradezu “feministisch-archäologischer” Recherche Leben zurückgegeben und damit ein Exempel statuiert, das Frauen aufhorchen lässt. “Überlebende” tragen Mitverantwortung, damit sich neue Perspektiven des Verstehens erschliessen. Im besten Falle erwächst daraus Hilfe, vielleicht aber nur eine neue Sicht auf eine “wahnsinnig gute Frau”, womit auch ihr sogenannter Skandal zum Erlöschen kommt.
Der eigentliche Wahnsinn in der Begegnung mit “wahnsinnigen” Frauen oder: Das Drama der begabten Frau
In den Jahren 1992 bis 1999 haben Sibylle Duda und Luise F. Pusch drei Bücher über “Wahnsinns Frauen” im Suhrkampverlag herausgegeben (heute leider vergriffen). Sie haben sich nicht mit blossen Biographien begnügt, sondern sind den Verwicklungen in gesellschaftliche Probleme nachgegangen: “Die Sprache des weiblichen Wahnsinns ist eine Kritik am Patriarchat” (vgl. Eingangskommentar 1992). Mias Kofferrauswurf wäre dann ein Symbol ihrer Befreiung aus patriarchal verstandenen Lebensbezügen, wo eine “wahnsinnig gute Frau” eben skandalös ist. Damit kann ihre Aktion als Widerstand interpretiert werden – es wurde aber mutwillig als psychiatrische Erkrankung ausgelegt. Sibylle Duda rät, in einem solchen Falle die ideologiekritische Frage zu stellen: “Wem nützt diese Theorie?” (Vgl. Vorwort 1996) Fazit: Reflexion, Skepsis und Misstrauen sind die angebrachten Instrumente, um uns selbst und andere vor einem zu hohen Preis fürs Anderssein zu bewahren. Das hat die Bildungsreise für alle erbracht.
Literaturangaben: Duda, Sibylle und Pusch, Luise F.: WahnsinnsFrauen, 3 Bde, Frankfurt am Main 1992/96,99
Links zu erschienenen Artikeln
https://www.ostschweizerinnen.ch/Kultur/wEdit.miahesse.php
https://www.ostschweizerinnen.ch/Frauengeschichten/miahesse.php?navanchor=2110009
Dr. Eva Eberwein, Besitzerin des Hesse-Hauses, führt durch die Geschichte Bild: Lemke Beyer
Barbla Jäger ist Mitglied der Vorstände von DenkBar und IG Frau und Museum
Mailadresse der Besitzerin des Hesse-Hauses: