Neue Geschichten aus einem Leben zwischen Ost und West
Nach ihrem Erfolgsbuch «Eine Träne. Ein Lächeln. Meine Kindheit in Damaskus» lässtLuna Al-Mousli die scheinbar unbelebten Dinge vom Leben in einer chaotischen Grossfamilie erzählen. Oft sind es einfach Gegenstände, die von den Geheimnissen erzählen… Man muss ihnen nur lang genug zuhören», ist die Autorin überzeugt. Am 23. Februar stellt sie in der Bibliothek Wyborada ihr neustes Werk «Um mich herum Geschichten» vor.
Wenn Luna Al-Mousli sich ihre Kindheit in Syrien inmitten einer chaotischen Grossfamilie in Erinnerung ruft, dann läuft sie in Gedanken die Wohnungen der Grosseltern, Tanten und Onkel in Damaskus ab. Viele Details haben sich unwiderruflich in ihr Gedächtnis gebrannt. Geräusche, Gerüche und Gegenstände. Kleine Schätze und bedeutungsvolle Dinge – auf den ersten Blick sind sie nicht immer als solche zu erkennen. Doch Luna Al-Mousli lauscht und hört ganz genau hin. Solange, bis die Gegenstände ihre Geschichten erzählen. Mit ihrem Buch «Um mich herum Geschichten» beweist Luna Al-Mousli einmal mehr, dass sie es wunderbar versteht, die syrische Lebenswirklichkeit zwischen Melancholie und purer Lebensfreude einzufangen und spürbar zu machen.
Erfahren Sie mehr in der nachfolgenden Leseprobe!
Versteckt hinter der dunklen Holztür zum Wohnzimmer hatten sie mich. Nicht etwa aufgehängt beim Eingang oder gar im Arbeitszimmer. Und schon gar nicht gut sichtbar über der Couch, mit Blick auf den Garten. Der dicke goldene Bilderrahmen, der vermutlich extra für mich gekauft wurde, war oben ganz verstaubt. Ein paar dieser Staubkörner wurden mit mir hinter dem Glas eingequetscht und plattgedrückt, ohne ihre Position über die vielen Jahre je verändert zu haben. So wie sich auch meine Position über die Jahre nie änderte.
Immerhin blitzte die Ecke des goldenen Rahmens ein Stückchen hinter der Tür hervor. Nicht genug, um ein wirklicher Hingucker zu sein. Nie war ich ganz zu sehen, denn die Tür blieb nahezu immer offen. Geschlossen wurde sie nur, wenn etwas Privates besprochen werden musste oder wenn gestritten wurde. Was wiederum so selten geschah, dass ich mich an die wenigen Male nicht erinnern kann. Vermutlich schlossen sie die Tür auch deswegen nicht, weil sich in der Ecke dahinter langsam noch weitere Dinge ansammelten: ein blaugelbes Bügelbrett mit einem Brandfleck, Einkaufstaschen, Stapel alter Zeitungen und ein Holzbrett, das zu einem Regal gehörte, das bestimmt schon längst auf dem Müll gelandet war.
Ich liebte es, wenn die Tür geschlossen wurde. Das ganze Wohnzimmer konnte ich dann sehen. Die schwarzen Ledersofas mit ihren deutlichen Sitzspuren, den orientalischen Teppich in rot-blau und die Bilder, die an der Wand gegenüber hingen. Arabische Schriftzeichen, geschnitzt aus Holz und Perlmutt, hingen untereinander. In der Mitte des Wohnzimmers hing ein kleiner Kristallleuchter. Je nachdem, wo sich die Sonne gerade am Himmel ausruhte, streuten die Kristallkugeln kleine Kreise an die Wände, in denen sich Regenbögen versteckten. Ein Lichterspiel. Ich freute mich. Den Kater machte es hingegen verrückt. Wie wild lief er dem Licht hinterher, bis er sich erschöpft auf dem Teppich oder auf der blaugoldenen Tagesdecke zusammenrollte und tief ein- und ausatmete bis die Schnurrhaare vibrierten.
Eines Tages machte der Kater einen grossen Sprung vom Wandregal und stiss dabei an meinen Bilderrahmen, der daraufhin wochenlang leicht verschoben war. Schief beobachtete ich meine Umgebung. Bei einem anderen Sprung erwischte der Kater die Unterkante des Bilderrahmens, der sogleich zu Boden fiel. Das Glas bekam einen grossen Riss von rechts nach links. Von da an, wurde mir die Sicht erschwert. Ich hoffte lange, dass das Glas ausgetauscht würde. Vergebens. In der Morgensonne konnte ich die Fingerabdrücke auf dem Glas sehen, von jeder Person, die mir zu nahe kam. Beim Putzen haben sie mich stets vergessen. Mein Papier ist gelblich vom Licht oder war es immer schon so? Da hing ich. Die Erinnerung, dass mit mir ein Traum in Erfüllung ging.
Mit grosser Freude hatten sie mich in den Händen gehalten und mich in unterschiedlichen Konstellationen fotografiert.
Ich mit ihm.
Mit seiner Frau.
Mit seiner Frau und seinem Erstgeborenen.
Mit seinen Freunden.
An diesem sonnigen Tag lernte ich ihn kennen. Seine Haut war dunkler als die der anderen. Ich fühlte mich besonders und war aufgeregt. Seine Hände waren stark und rau, er roch nach einer Mischung aus Schweiss, Parfüm und Waschmittel. Er hatte wilde Augenbrauen, die sich beim Reden mitbewegten, und im Wind hochstanden. Wenn er grinste, sah ich seine Falten. Darin verbargen sich Kummer und Freude. Aber vor allem Geschichten. Aus den vielen Buchstaben auf mir, setzte sich sein Name zusammen. Daneben eine unleserliche Unterschrift und ein Stempel in Gold. Nun war er ein echter Doktor.
In seiner Wohnung wurde ich nicht als erstes aufgehängt. Dort hingen bereits unzählige Bilder seiner Familie und machten mir den Platz streitig. Diese Galerie wurde immer wieder mit Bildern neuer Familienmitglieder erweitert. Fotos von Hochzeiten und Abschlussfeiern. Seine Frau hängte an jeder Wand etwas auf, solange es nur Platz gab. Unsystematisch und aus dem Bauch heraus. Unterschiedliche Bildformate, eingerahmt in goldenen, schwarzen und silbernen Bilderrahmen. Dazwischen Kupfer-Teller mit Gravuren aus Budapest und Kairo. Der prominenteste Platz gebührte einem 1000-Teile-Puzzle, dem ein einziges Stück fehlte. Das wäre eigentlich mein Platz gewesen. Im Kopf malte ich mir aus, wie sie mich feierlich aufhängen würden. Sie würden die Wand genau abmessen, um mich mittig zu platzieren. Dann eine Wasserwage verwenden, damit ich gerade auf das Wohnzimmer blicken könnte. Ich hatte mich bereits für diese Wand entschieden. Sie war perfekt. Es bestand keine Gefahr, dass ich meinen Platz mit anderen Fotos oder Bildern teilen müsste, weil nur für mich Platz gewesen wäre. Doch stattdessen hing dort jetzt dieses Puzzle. Im Winter, als die Kinder und Enkelkinder zusammenkamen, versammelten sich alle um den Esstisch und setzten die kleinen Stücke mit viel Geduld zusammen. Ihm fehlte diese Geduld. Er setzte ein oder zwei Puzzlestücke zusammen und verliess leise fluchend den Tisch. Dann ärgerte er sich, dass er in der Küche essen musste, denn der Esstisch blieb über mehrere Wochen belegt. Zuerst stand ich verpackt im Keller, dann – ein Stockwerk höher – in der Ecke des Abstellraumes und später im Wohnzimmer, bereit, um endlich an meinen Platz zu kommen. Wochenlang hatte ich an die Wand gestarrt und dabei zugesehen, wie sie sich mehr und mehr füllte.
Ich sah seine Kinder aufwachsen und ihre eigenen Wege gehen. Ihn auch. Sah, wie sich seine Züge in kleinen Schritten veränderten. Ihn beobachtete ich am meisten. Er war immer leicht gebräunt. Selbst im Winter. Er hatte pechschwarze Haare, die sich zeigten, wenn er den obersten Knopf seines Hemdes öffnete. Mit der Zeit wurden sie jedoch grauweiss wie auch sein Zwei-Tage-Bart, den er sich wachsen liess, wenn es ihm einmal nicht so gut ging. Wenn er nach Hause kam, sass er immer am gleichen Platz. Über die Jahre ersetzten blaue Stoffsofas die schwarzen Ledersofas. Doch sein Platz blieb unverändert. Seine Augen erfreuten sich an dem grünen Garten und der Sonne. Er liebte die zwei Apfelbäume. Vielleicht mochte er diesen Ausblick, weil er ihn an zuhause erinnerte. An den Bauernhof, auf dem er aufwuchs, und an die unendlich weiten Felder. Ich hörte ihn oft davon erzählen. Seine Stimme füllte sich mit Freude, dann mit Hoffnung und dann mit einer tiefen Trauer. Jahre später, in einer Zeit, als er bereits weder mich noch irgendjemand anderen erkannte, konnte er vor seinem geistigen Auge ein neues Zuhause sehen, riechen und fühlen. Mit seinen Geschwistern aus der Vergangenheit und der Freiheit aus der Zukunft.