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Das Leben von elf Schweizerinnen, die nach England gingen und blieben – ein Buchtipp

Das Leben von elf Schweizerinnen, die nach England gingen und blieben – ein Buchtipp

Hunderte von jungen Schweizer Frauen lebten vor 1939 als Haushaltshilfen in England. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurden Sie nach Hause geholt. Einige von ihnen blieben auf der Insel – auch Bertha Salt-Bhend. Sie wurde Lastwagenfahrerin bei der britischen Luftwaffe Royal Air Force.

In der Zwischenkriegszeit gingen sie zu Hunderten, in den späten Vierziger- und Fünfzigerjahren zu Tausenden. Sie hiessen Emma, Bertha oder Marie und kamen aus Wilderswil, Urnäsch oder Bellinzona. Sie arbeiteten als Hausangestellte, Kindermädchen oder Gesellschafterinnen in Liverpool oder London und auf Landgütern von Adligen. Die Frauen gingen, obwohl die Medien warnten: vor dem britischen Wetter, vor dem englischen Klassendünkel, vor unerwünschten Schwangerschaften. Ein Massenexodus von Frauen, wie er in der Schweizergeschichte wohl kein zweites Mal vorkam, ereignete sich. Und wenn sie in England blieben, dann fast immer deshalb, weil genau das passierte, wovor sie so eindringlich gewarnt worden waren: Sie verliebten sich, wurden schwanger, heirateten. Die Autorin, Simone Müller, erzählt in ihrem eben erschienenen Buch «Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England» die Geschichten von elf dieser Frauen, die heute fast ganz aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden sind. Eine von ihnen ist die 92-jährige Bertha Salt-Bhend; sie blieb in England. Lesen Sie das Porträt in einer gekürzten Fassung.

Beim Leuchtturm von Lossiemouth

Die Geschichte von Berta fängt im Berner Oberland an, in einem Bauernhaus am Fuss des Niesens. Sie beginnt am 1. Mai 1919 im kleinen Dorf Schwandi, wo Berta geboren wurde und aufge­wachsen ist, als viertes von sechs Geschwistern. Berta wollte weg von Schwandi, so schnell wie möglich. Sie wurde Lastwa­genfahrerin bei der britischen Luftwaffe, und einmal rettete sie Soldaten aus dem Meer, die vor der schottischen Küste abge­stürzt waren. Berta kann ihre Geschichte nicht mehr selber erzählen. Schon seit Längerem ist sie müde, eine Bronchitis im Februar 2017 hat sie zusätzlich geschwächt. Dafür erzählen Martha, ihre 93­-jährige Schwester. Und die Tochter Beverlie Blee – seit sechs Jahren wohnt Berta bei Beverlie in Abingdon in der Nähe von Oxford. Im März 2017 liegt ein Fotoalbum mit Bildern von Schwandi auf dem Wohnzimmertisch des Reihenhäuschens in Abingdon sowie ein Stammbaum der Familie Bhend. Berta schläft im Nebenzimmer, wie immer am Vormittag, seit sie die Bronchitis hatte.

Eigentlich hatte Berta noch weitergewollt, nicht nur bis Eng­land. Berta wollte nach Kanada auswandern. Aber die Mutter, Emma Bhend­-Gertsch, hatte gesagt, sie müsse zuerst Englisch lernen, bevor sie so weit weg könne. Deshalb war Berta dann nach Eng­land gegangen. Die Familienbande blieben eng, und immer am 1. August fuhr Berta mit ihren Zwillingstöchtern auf dem Rücksitz und einem Igluzelt im Kofferraum von Liverpool bis ins Kandertal. Einmal hatte Berta das Auto am Ärmelkanal in ein Frachtflugzeug verladen, und während das Auto über den Kanal geflogen wurde, fuhren Berta und die Zwillinge mit dem Schiff hinüber. Bertas Leben ist voll von abenteuerlichen Geschichten.

Die bittere Armut in den Dreissigerjahren

Auf dem Bauernhof in Schwandi gab es drei oder vier Kühe, ein paar Hühner, Schweine. Einmal pro Jahr wurde ein Schwein ge­schlachtet. «Das einzige Fleisch, das wir hatten», erinnert sich Martha an ihrem Wohnort in Glarus. Einen der beiden Schinken kochte die Mutter jeweils für die Heuer, die im Sommer bei der Ernte halfen. Taglöhner, die noch weniger hatten als sie selber. «Damals in den Dreissigerjahren war es ja ganz schlimm. Das waren eben die Krisenjahre, alle waren arm.» Aber die Mutter sei immer grosszügig gewesen, habe reichlich aufgetischt. «Sie wollte, dass die Heuer auch ein­mal richtig essen konnten. Die waren gottenfroh.»

Arnold Bhend, der Vater, hatte Tuberkulose und wurde mit den Jahren immer schwächer. Oft war er müde, manchmal reichte die Kraft kaum zum Arbeiten. Im Dorf wurde getuschelt. Faul sei er. Für nichts zu gebrauchen. Berta war zehn Jahre alt, als der Vater 1929 starb. Die Mutter blieb alleine mit den sechs Kindern auf dem Hof zu­rück. Nach dem Tod ihres Mannes wurde Emma Bhend von den Behörden beobachtet – und von den anderen Bauern. Martha erzählt: «Man schaute, ob sie das prästiere. Eine Frau alleine mit sechs Kin­dern auf diesem Hof. Sie hatte immer Angst, dass man ihr die Kinder wegnehme.» Doch Emma Bhend wusste, wie prekär ihre Lage war und passte auf, dass man ihr nicht das Geringste vorwer­fen konnte. Dass sie immer Ordnung hatte auf dem Hof und die Kinder keinen Anlass gaben zu Beschwerden. Als der Vater ge­storben war, hatten die Bauern in der Umgebung bereits unter­einander ausgehandelt, wie sie das Land aufteilen wollten. Wenn die Frau dann würde aufgeben müssen.

Hunderte britischer Kinder evakuiert

Berta wollte weg von alldem, weg aus der Enge des Kandertals. Martha sagt: «Sie wollte diese Schwandi­-Frösche nicht mehr sehen. Ich begreife das, alles war so kleingehäuselt. Sie sah keine Perspektive. Und einen Schuldenbauer heiraten, das wollte sie zuallerletzt.» In den Dreissigerjahren kamen viele englische Touristen ins Berner Oberland. Auf dem Weg nach Adelboden oder Kander­steg erwischten sie oft den falschen Zug, den Bummler statt den Schnellzug. Dort sassen die Schulkinder, die in Frutigen die Sekundarschule besuchten. Sie hörten die Touristen spre­chen und hätten gerne verstanden, was die sagten. «England war damals einfach Trumpf.» Nicht nur die Sprache, auch eng­lische Bettflaschen und Fahrräder – beides ein Inbegriff von Soli­dität und guter Qualität – waren «Mode»: «Ein englisches Velo musste man einfach haben!»

Nach der Schule tat Berta, was Mar­tha «das Übliche» nennt, «das, was Bauernmädchen damals halt durften». Sie ging ins Welschland und machte ein Haushaltungslehrjahr in Bern. Bis es 1938 dann soweit war und Berta nach England reiste. Sie kam in die Yorkshire Dales auf einen abgelegenen Herrschaftssitz namens Hanlith Hall zu einer Familie mit zwei Kin­dern. Am 1. September 1939 brach der Zweite Weltkrieg aus, und bereits kurz nach Kriegsausbruch wurden Hunderte von britischen Kindern und Jugendlichen aus den Städten und Industriezen­tren aufs Land evakuiert, weil man sie vor Bombenangriffen schützen wollte.

Auch im grossen Herrschaftshaus in Hanlith Hall wurden Schulkinder aus London einquartiert, die Angestellten waren nun rund um die Uhr mit diesen Kindern beschäftigt. Berta behagte der ständige Betrieb nicht, sie kündigte die Stelle und ging 1940, trotz Krieg, nach London. Die Mutter hatte bei Kriegsausbruch versucht, Berta zu ei­ner Rückkehr zu bewegen – vergeblich. «Sie wollte nicht zurück. Sie hatte Angst, dass sie später nie mehr von dem kleinen Berner Oberländer Bauernhof wegkommen würde», meint Beverlie. Und Martha: «Sie wäre unter keinen Umständen zurückgekommen. Wenn Berta etwas nicht wollte, dann wollte sie nicht.»

Martha erinnert sich an die Briefe, die Berta der Mutter wäh­rend des Krieges schrieb, aber: «Sie schrieb selten. Und wir ver­standen nicht alles, was sie schrieb. Manchmal benutzte sie eng­lische Ausdrücke, die wir nicht kannten.» Berta meldete sich bei den britischen Streitkräften, was möglich war, weil sie wegen ihres Schweizer Passes als friendly alien galt, als «befreundete Ausländerin». Berta sprach Deutsch, Französisch und Englisch und sollte deshalb beim Geheimdienst eingeteilt werden. Aber Berta winkte ab. Sie wollte zur britischen Luftwaffe Royal Air Force RAF. Möglich, dass sie hoffte, sie wür­de dort zur Pilotin ausgebildet. Zwar gab es im Zweiten Welt­krieg bei der britischen Luftwaffe Pilotinnen, aber sie wurden nur selten eingesetzt – auf Inlandflügen etwa, wenn ein Flug­zeug von einem Stützpunkt zum anderen geflogen wurde. Ber­ta kam zur Women’s Auxiliary Air Force WAAF, der weiblichen Hilfstruppe der RAF und wurde Lastwagenfahrerin.

In fremden Diensten im Einsatz

Im Schweizerischen Bundesarchiv gibt es ein Dossier über zwei andere Schweizerinnen, die 1941 der WAAF beigetreten waren. In einem Schreiben vom November 1941 erkundigt sich das Eidgenössische Departement für Auswärtiges EDA bei der Schweizer Botschaft in London, um was für eine Einheit es sich bei der WAAF handle. Im Antwortschreiben des Botschafters steht: «Die Women’s Auxiliary Air Force ist nicht eigentlich eine kombattante Truppe, aber doch eine Formation, die zum britischen Heere gehört. Die Personen dieser Truppe haben die verschiedensten Obliegenhei­ten wie zum Beispiel Sekretärsposten, Kantinenarbeit, Führen von Auto­mobilen, Bedienen von wissenschaftlichen Instrumenten bei den Versuchsstationen.»

Weiter heisst es: «Eine ganze Anzahl von Schweizerinnen, die in England sind, haben den Wunsch, dieser oder einer anderen Formation beizutreten.» Im gleichen Dossier findet sich auch ein Briefwechsel zwischen dem EDA und dem Eidgenössischen Militärdepartement, in welchem die Rechtmässigkeit diskutiert wird. Im Militärdepartement kommt man zum Schluss, dass Frauen, weil sie in der Schweiz nicht wehrpflichtig sind, die schweizerische Wehrkraft mit einem «Eintritt in frem­den Militärdienst» nicht schädigten und somit auch nicht bestraft werden könnten. Aus dem Dossier geht allerdings auch hervor, dass die Behörden ein solches Engagement nicht gern sahen.

Als Berta fertig war mit der Ausbildung bei der WAAF, wurde sie gefragt, wo sie stationiert werden möchte. Sie antwortete: «Auf dem allernördlichsten Stützpunkt.» Im Norden von Schottland also. Weil es dort aber keine Frauen gab, wurde sie nach Lossiemouth gebracht, 200 Kilometer nördlich von Edinburgh. Berta musste mit dem Lastwagen Material und wahr­scheinlich auch Personen hin-­ und herfahren. Es gibt Dinge, die nur Berta zu erzählen wüsste. Nur sie könnte den Kriegsalltag schildern und die Atmosphäre in der Frauenkaserne von Lossiemouth. Sie würde vielleicht von Span­nungen berichten oder von Freundschaften.

Weil Berta nicht mehr selber erzählen kann, bleibt aus ihrer Zeit bei der britischen Luftwaffe fast nur die Geschichte vom Militärflugzeug, das vor der schottischen Küste ins Meer stürzte – und auch davon sind nur Bruchstücke überliefert: Dass Berta mit dem Lastwagen die Küste entlangfuhr, sah, wie ein Militärflugzeug vom Himmel fiel und auf dem Meer aufprallte. Dass sie sofort anhielt, den Motor abstellte, zum Meer hinunterrannte und sich ins Wasser stürzte. Leben rettete. Sicher ist auch, dass sie für ihren furcht­losen Sprung in die kalten Fluten später eine Medaille erhielt.

Vielleicht würde sich Berta auch an Jahreszahlen erinnern, daran zum Beispiel, wann sie William Salt kennenlernte. So bleibt nur die Geschichte vom Leuchtturm von Lossiemouth – die allerdings schön ist und romantisch und ein wenig abenteu­erlich. Wie so viele Geschichten in Bertas Leben. In Lossiemouth durften die Soldatinnen abends die Kaserne nicht verlassen. Berta aber wollte William treffen, einen RAF-Piloten, und kletterte nachts heimlich aus dem Fenster. Sie schlich zum Meer hinunter, zum Leuchtturm, wo William auf sie wartete.

Als der Krieg zu Ende war, wurden beide, Berta und William, aus der Armee entlassen. Berta reiste ins Kandertal – sieben Jahre lang hatte sie ihre Familie nicht mehr gesehen. William kam spä­ter nach. Im September 1946 heirateten Berta Bhend und Wil­liam Salt in der Kirche Frutigen. Berta trug eine Berner Oberlän­der Tracht. Zusammen gingen sie nach England zurück, nach Liverpool, wo 1947 die Zwillinge Belinda und Beverlie zur Welt kamen und William 1949 einen Fish-and­-Chips­-Laden kaufte.

Der blaue Peugeot der Berta Salt-Bhend

Eigentlich hatten Berta und William nach Australien auswandern wollen, aber beim Gesundheitscheck fürs Visum entdeckte man, dass Wil­liam Krebs hatte. Sie mussten ihre Pläne aufgeben, William kaufte den Laden, um die Existenz sei­ner Familie zu sichern. Er starb 1949 im Alter von dreissig Jahren. Berta führte das Geschäft alleine weiter und brachte damit sich und die Zwillinge durch. Die Leute standen Schlange vor dem Laden. Fish and Chips, in Zeitungspapier verpackt, ass man auch im Kino – wie Popcorn.

Berta bereitete alles frisch zu, den Fisch bezog sie direkt beim Händler. Vierundreissig Jahre lang verkaufte Berta Fish and Chips in Liverpool. Fliegen hat sie dann doch noch gelernt. Als die Zwillinge sechzehn waren, begann Berta zu sparen, nahm Flugstunden am Wochenende, und machte die Pilotenlizenz. In Abingdon, am Nachmittag des 26. März 2017, liegt Berta im Wohnzimmer auf dem Sofa, manchmal lacht sie, manchmal nickt sie, aber sprechen mag sie nicht. Vor dem Haus steht ihr kleiner blauer Peugeot. Berta ist mit dem Auto gefahren, bis sie 92 war. Und auch dann hörte sie nur auf, weil die Versicherungsprämien ins Astronomische kletterten.

Buchtipp: Die vergessenen Schweizer Emigrantinnen

«Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England»: Simone Müller; mit Fotografien von Mara Truog, 256 Seiten, gebunden, 59 Fotos und Dokumente, Limmat Verlag, für ca. 38 Fr. im Buchhandel erhältlich.

Buchvernissage: Montag, 20. November 2017, 19 Uhr Ort: Haupt Buchhandlung, Falkenplatz 14, Bern; Eintritt: 12 Fr., inkl. Apéro, Platzreservation empfohlen.

 

Text: Bluewin / Bild: Mara Truog (Berta Salt-Bhend im Alter von 92 Jahren)

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