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GENDERCAMPUS-REZENSION ZU «SEXUALITÄT – GESCHLECHT – AFFEKT» VON CHRISTA BINSWANGER

GENDERCAMPUS-REZENSION ZU «SEXUALITÄT – GESCHLECHT – AFFEKT» VON CHRISTA BINSWANGER

Was haben Max Frischs Roman der Identitätssuche «Stiller» und Verena Stefans feministischer Erfahrungsbericht «Häutungen» gemein? Beide verhandeln eine «Ethik der Scham», analysiert Christa Binswanger. In den Affect Studies als sogenanntes «bad feeling» konzeptualisiert, ist die Scham geschlechtlich kodiert.

Christa Binswanger  spricht gleichzeitig von emanzipatorischem Potenzial: Sie vermag es, Geschlechtergrenzen und -identitäten neu zu denken. Mit ambivalenter Wirkung: In «Stiller» endet die Scham des Protagonisten im Scheitern, in einer Krise der Männlichkeit. In «Häutungen» gelingt ein Wandel der weiblichen Scham durch ihre Reintegration in die Befreiung.

Bei Frisch treffen wir trotz weisser Westernmännlichkeit auf Momente einer Überwindung von Geschlechterdualismen. Auch wenn zu dieser Zeit noch nicht lebbar, schafft der Roman bereits Möglichkeitsräume, in denen neue Geschlechterverhältnisse denkbar werden. Was weibliche Sexualität betrifft, bleibt Frisch jedoch in zeitgenössischen Diskursen gefangen. Rund zwanzig Jahre später kritisiert Verena Stefan ebendieses starre Verständnis von Weiblichkeit. Im Fokus ihres revolutionären Verständigungstextes steht eine erfüllte weibliche Sexualität durch Sprach- und Selbstfindung.

Derart erhellende Einblicke erhalten wir in der jüngst veröffentlichten Studie «Sexualität – Geschlecht – Affekt» von Christa Binswanger. Mit Anleihen aus der Geschlechterforschung, den Queer und Affect Studies und der Sexual Script Theory entwickelt die Kulturwissenschaftlerin das Verfahren der «palimpsestischen Lektüre» und untersucht damit sechs literarische Erzähltexte der Nachkriegszeit.

Im Vordergrund steht das Potenzial für Veränderung: der Geschlechterverhältnisse, des sexuellen Selbst und der Gefühle. Binswanger prüft, ob die dargestellten Erfahrungsräume es vermögen, Verständnisweisen von Männlichkeit und Weiblichkeit herauszufordern. Gelangen wir mithilfe literarischer Texte zu «anderen Wahrnehmungen der Wirklichkeit», wie die Philosophin Carolin Emcke es postulierte? Zur Beantwortung dieser Frage richtet Binswanger den Blick auf die Figuren der sechs Romane und deren sexuelle – und textuelle – Selbstwerdung.

Ihr Analyseinstrument bilden sexuelle Scripts. Sie schliesst damit an die Sexual Script Theory von Gagnon und Simon (1973) an, die den Scripts drei Ebenen zugrunde legt: die intrapsychische, die interpersonelle und die kulturelle. Den Scripts kommt gewissermassen eine Doppelrolle zu. Einerseits liefern sie als Repertoire von Szenen adäquate Verhaltensweisen. Andererseits liegt in ihnen das Potenzial für Eigensinn und Veränderung. So werden sie der Realität gerecht, denn auch «Konzepte von Sexualität und Geschlecht sind seit der Nachkriegszeit von Dilemmas und Paradoxien geprägt.» (Binswanger 2020, S. 14)

Binswangers Ausrichtung ist interdisziplinär. In der kulturwissenschaftlichen Geschlechterforschung heimisch ist sie es gewohnt, Disziplinen zu durchque(e)ren. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Geschlecht und Sexualität, Queer und Affect Studies, Care Ökonomie und geschlechtergerechte Sprache. Binswanger gelingt es in ihrer kulturwissenschaftlichen Studie, theoretische Reflexionen und ästhetisierte, fiktionale Erzählungen von Sexualität in einen fruchtbaren Dialog zu bringen.

Wie macht sie das? Um die drei Ebenen der sexuellen Scripts aufeinander zu beziehen, entwickelt sie die Methode der «palimpsestischen Lektüre». Das Palimpsest ist eine Metapher. Ursprünglich bezeichnet es ein Manuskript, welches mit neuem Text überschrieben wird. Binswanger verwendet das Palimpsest, um den Prozess des Überschreibens, der Schichtung von Sprache zu veranschaulichen.

Literarische Texte sind mehrstimmig und mehrdeutig, gleichzeitig «schreiben sich in theoretischen Debatten ebenfalls immer neue Schichten übereinander.» (ebd., S. 30) Mit dem Werkzeug der palimpsestischen Lektüre erweitert Binswanger den Begriff des Queer Readings, um der Vielschichtigkeit und Verschränktheit der Ebenen sexueller Scripts gerecht zu werden.

Von Scham, Trauma und Entgrenzung

Binswanger entfaltet drei thematische Schwerpunkte. Den ersten bildet Sexualität und Geschlecht im Zeichen von Scham, Scheitern und Befreiung. Analysiert wird dieser in den eingangs vorgestellten Texten «Häutungen» und «Stiller». Der zweite Schwerpunkt steht im Zeichen von Angst, Trauma und Metamorphose. Untersucht werden Guido Bachmanns «Gilgamesch» und Elfriede Jelineks «Die Klavierspielerin».

Als dritten thematischen Block betrachtet Binswanger Undoing Affect, Krise und Entgrenzung am Beispiel von Marlene Streeruwitz’ «Kreuzungen» und Juli Zehs «Spieltrieb». Die drei Blöcke behandeln für die Nachkriegszeit relevante Aspekte sexueller Scripts.

Binswanger folgt in der dreiteiligen Analyse jeweils demselben Schema: Sie bettet zu Beginn eines jeden Kapitels die Werke in ihre zeitgeschichtlichen Debatten ein. Darauf folgt eine gleichsam dichte wie anschauliche Nachzeichnung des Plots und der Erzähllage. Anschliessend widmet sie sich der intrapsychischen, interpersonellen und kulturellen Ebene der sexuellen Skripts und liest diese in ihrer Verschränkung. Zum Schluss folgt eine Synopse der behandelten Werke.

Diese Reihenfolge bleibt erst einmal bestehen. Wer sich jedoch im Laufe der Lektüre nach etwas analytischer Auflockerung sehnt, wird fündig. «Die Klavierspielerin» bricht zuerst mit dem Raster: Jelinek erschafft eine «Hyperrealität» (ebd., S. 191). Ihr Schreibstil voller Sprachspiele, Parodien, (Selbst-)Ironie, Groteske und Übertreibungen lässt weder identifizierende, noch psychologisierende Lesarten zu und erfordert Sprachskepsis (vgl. ebd., S. 185). Intrapsychische und kulturelle Scripts sind verwoben, eine Unterscheidung oftmals unmöglich. Binswanger reagiert flexibel und fasst die beiden Ebenen zusammen. Sie passt den selbst gesetzten Analyserahmen dem Gegenstand an, worunter er mitnichten leidet, sondern an methodologischer Prägnanz gewinnt.

Die gewählten Schwerpunkte der Analyse – Trauma, Scham, Entgrenzung – zeigen, wie konfliktreich, ja traumatisierend, sexuelle Selbstwerdung sein kann. Binswanger, wohl informiert durch die Critical Sexuality Studies, analysiert hier behutsam und differenziert. Jede Figur, jedes sexuelle Selbst, wird aufs Neue in seinen Konflikten überprüft. Sie zeichnet so ein vielschichtiges Bild von Sexualität und ihrem transformativen und repressiven Potential. In der Literatur. Und darüber hinaus.

Literaturtheorie mit politischem Anspruch

Als Stärke der palimpsestischen Lektüre lässt sich hervorheben, dass sie ein praktisches und ergiebiges Analyseverfahren für kryptische und mehrdeutige Erzähltexte anbietet. Fraglich bleibt, wie breit deren Anwendungsmöglichkeit auf Texte ist, die noch vor «Stiller» geschrieben wurden. Diesen Anspruch erhebt Binswanger jedoch auch nicht. Die volle Wirkung entfaltet ihr Vorgehen tatsächlich darin, dass (post-)moderne Fragen an (post-)moderne Texte gestellt werden. In Bezug darauf ist die Analyse präzise und reichhaltig, überrascht immer wieder mit neuen Ansätzen. Und ist auch für uns, heute, von Relevanz.

Die Auseinandersetzung mit literarischen Texten wirft, so Binswanger, die Frage nach dem kritischen Interventionspotential von Literatur auf (vgl. ebd., S. 30). An einem breiten Politikbegriff der Affect Studies orientiert hält Binswanger fest, dass jeder literarische Text sich politisch positioniere. Die von ihr gewählten Texte eint, «dass sie als Intervention in Stereotypisierungen und gesellschaftlich geprägte Wertungen gegenüber Sexualität lesbar sind.» (ebd.) Literarische Texte sind das Produkt der Auseinandersetzung der Autor*innen mit der gesellschaftlichen Realität.Sie durchlaufen ästhetisierende Gestaltungen und Abstraktionsprozesse und speisen sich aus dem Überschreiben bereits vorhandener Skripts.

Binswanger versteht die Gesamtheit ihrer Texte als «De- und Rekonstruktion», als «eine Schnittstelle von Fiktion oder Artikulation über Wirklichkeit mit Gesellschaftskritik» (ebd.). Literatur eignet sich deswegen als Gesellschaftsdiagnose, weil sie einerseits Freiräume entwirft und andererseits «auch wenn sie als Motor für Grenzüberschreitungen wirkt, in sozio-logische Geschlechterverhältnisse eingebettet» ist (ebd., S. 294). Literatur ist Teil der Gesellschaft und ihrer kulturellen Artefakte, gerade deswegen vermag sie es, zu überspitzen, zu konterkarieren, zu radikalisieren. Wichtig ist bloss, dass wir uns bewusst sind, was unseren Gegenstand auszeichnet. Literatur ist nicht gleich Wirklichkeit. Aber durch sie gelangen wir zu anderen Wahrnehmungen dieser.

Und da Binswangers Werk uns Alternativen aufzeigt, wie Geschlecht und Sexualität gelebt, gedacht und gewandelt werden können, ist ihre (queer-)feministische Analyse eine Intervention in bestehende Gesellschaftsverhältnisse. Dieser Intervention geht für jeden Text erst einmal die Beobachtung dieser Verhältnisse voraus. Indem Binswanger prüft, ob und wie Texte Verständnisweisen von Männlichkeit und Weiblichkeit herauszufordern, tut sie es selbst.

Quelle: Gendercampus
Lea Dora Illmer, Alessandra Widmer November 2020

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