«Gender»: Mehr Geschlechter, weniger Sonderrechte
Es ist nicht zwingend, dass der Staat seine Welt in Männer und Frauen aufteilt. Unterlässt er es, gibt es weniger Sonderrechte.
Ich habe wohl schon länger kein Formular mehr ausgefüllt. Ein solches wurde mir dieser Tage beim Besuch einer Arztpraxis zwischen die Hände geschoben. Darauf sollte ich unter anderem ankreuzen, ob ich «m», «f» oder «d» sei. Ich fragte, was «d» bedeute. «Divers», war die Antwort. Gut, auf diese Idee hätte ich angesichts der langjährigen Debatten selber kommen können. Der Anspruch, seine eigene Identität jenseits der herkömmlichen Geschlechterpolarität zu definieren, hat im Alltag offensichtlich Anerkennung gefunden.
Dazu passt die Meldung von Ende Oktober, dass die USA einen ersten Reisepass mit «X» als Geschlecht ausgestellt hätten. Das könne man von nun an routinemässig machen, erklärte das Aussenministerium der Vereinigten Staaten. Die US-Sondergesandte für LGBTQ-Rechte, Jessica Stern, sprach von einem historischen Schritt.
Diskussionen um Identitäten jenseits der Mann-Frau-Polarität haben immer noch das Potenzial, starke Emotionen pro und contra zu wecken. Wer das etwas entspannter betrachtet, muss sich allerdings fragen, ob ein Staat seine Angehörigen tatsächlich in Männer und Frauen und sonstige geschlechtliche Kategorien aufteilen muss.
Fortpflanzung prägt die Sichtweisen
Das Fortbestehen eines Gemeinwesens hat bisher das Denken und Handeln von Gesellschaften tief geprägt. Die Fortpflanzung spielt dabei logischerweise eine entscheidende Rolle und prägt entsprechend die sozialen Normen. Der medizinische Fortschritt hat jedoch die menschliche Reproduktion diversifiziert und das herkömmliche Mann-Weib-Schema gesprengt.
Aus liberaler Sicht gibt es keinen zwingenden Grund, warum sich hier der Staat einmischen soll. Seine Aufgabe ist es in erster Linie, die Existenz jedes seiner Angehörigen auszuweisen sowie deren Rechte und Sicherheit zu gewährleisten. So wie heute im Pass Angaben zu einer Religionszugehörigkeit nicht mehr zu finden sind, könnte man auch auf eine Bezeichnung des Geschlechts der jeweiligen Person verzichten. Foto, Geburtsdatum, Grösse und allenfalls biometrische Daten würden für die Identifizierung genügen. Dem einzelnen Individuum ist es dann überlassen, wie es sich geschlechtlich definieren will.
Dienstpflicht für alle
Diese Gleichstellung hätte allerdings Folgen auf anderen politischen Feldern. In der Schweiz würden zum Beispiel die aktuellen Diskussionen um eine Reform des Rentensystems in wesentlichen, umstrittenen Fragen überflüssig. Wenn der Staat seine Angehörigen nicht mehr nach Geschlechtern einteilt, kann er von vorneherein nicht mehr unterscheiden zwischen verschiedenen Pensionierungsaltern. Für alle gälte nunmehr dasselbe Alter. Erübrigen würden sich auch Auseinandersetzungen um Dienstpflichten in der Armee. Sie gälten automatisch für alle. In die Bredouille gerieten zudem staatliche Gleichstellungsbüros. Sie dürften sich nicht mehr an der Mann-Frau-Polarität ausrichten.
Die staatlichen Stellen, so mag jemand einwenden, könnten sich daran orientieren, wie jemand seine geschlechtliche Identität deklariert. Das wäre fragwürdig. Ein Individuum kann im Laufe seines Lebens sich neu erfinden und allenfalls seine geschlechtliche Identität mehrmals ändern. Das öffnet den Trittbrettfahrern Tür und Tor. Ein Mann hätte zum Beispiel die Möglichkeit, sich bis zum Ablaufen der Militärpflicht als Frau zu deklarieren, um danach wieder zum Mann zu werden. Wenn er auf die Pensionierung zusteuert, würde sich wiederum ein weiterer Wechsel zur Frau empfehlen – falls dann immer noch unterschiedliche Rentenalter gelten. Um solche fragwürdigen Slaloms zu vermeiden, müsste sich der Staat also bei Geschlechterfragen konsequent blind verhalten.
Was heisst: Der Anspruch an den Staat, mehr Diversität zu anerkennen, hat Folgen, die sich mancher wohl nicht wünschen würde.